Kapitel 11. Haxeth

1 0 0
                                    

Die Tür zum Klassenraum wurde geöffnet und Steve Dowell trat ein. Er schritt zum Pult, glättete sein Hemd, richtete seinen Kragen und hob den Blick in die Klasse. „Guten Morgen", sangen alle Schüler im Chor. Grave stand von ihrer Matte auf, die Augen des Zeitarztes wechselten zu ihr und musterten lauernd ihren Gesichtsausdruck, doch Grave lächelte grüßend und machte einen Knicks. „Wir werden heute vor den Rückbildungen versuchen, eure Geister tief zur Ruhe zu bringen, sodass alle geistigen Konstrukte und Gedanken verstummen. Auf diesem Weg werde ich anschließend durch alle Schichten angehäufter Strukturierungen noch besser zu eurem Lucilar durchdringen können", verkündete Dowell. Rosanna wurde dazu aufgefordert, ihm einen Protokollordner aus dem Regal zu holen, und Grave sollte Dowell das Schälchen mit den Schreibsteinen reichen. Kerzengerade steuerte sie zum Pult, legte es ab und sah ihm in die Augen. „Killiax ist so riesig, wir verlaufen uns zu schnell, um die Adressen zu finden. Aber wir haben uns ohnehin dafür entschieden, die Zeit künftig mit Zweisamkeit zu füllen. Schließlich werden wir eines Tages ohnehin alle in der selben Stadt leben", erklärte sie mit einem offenkundigen Lächeln. Sekundenlang hielt sie seinem Blick stand und ihr größter Wunsch war, ihm die spitzen Nägel in die Augäpfel zu stechen, seinen Schädel gegen die Kante des Pults zu donnern und mit dem Schälchen auf ihn einzuschlagen. Sie malte sich den Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht aus und nährte sich von den Vorstellungen, ihm grauenvolle Dinge anzutun. „Danke trotzdem", lächelte sie, Dowell nickte kurz und schickte Grave zurück zu ihrer Matte. Sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, wechselte ihr Gesichtsausdruck und es kostete sie eine ungeheure Kraft, anschließend wieder ein folgsames Lächeln aufzulegen. Nach ihrer Rückbildung kniete sich Dowell mit Graves Ordner neben sie und fragte wie gewöhnlich: „Tageszeit? Gefühle? Vornamen?..." Grave schürzte die Lippen, fasste sich ans Kinn und sah zur Decke. „Es war so kurz, ich kann mich schlecht daran erinnern. Hmm. Ich glaube, ich war glücklich", log sie, denn die Szene war in Wahrheit sehr aufrüttelnd gewesen. Sie konnte sich durchaus daran erinnern, dass sie auf einem Dach gestanden war und in eine morsche Stelle gebrüllt hatte, so als sei jemand hinuntergefallen. Aber jetzt überdachte Grave jede Information, die sie preisgab, und hörte dabei Henris Stimme in ihrem Kopf widerhallen: „Du musst jetzt Zeit schinden. Wenn du dich an wenig erinnern kannst, dann können sie dich nicht so schnell ausschließen. Aus diesem Grund ist ein Kleinkind doch bis heute in Vintessor. Es kommuniziert kaum." Dowell warf Grave einen bedauernden Blick zu, schien jedoch nicht zu wittern, dass sie taktierte. „In Ordnung. Wir versuchen nächstes Mal wieder mehr Halluzinogene, die Trance scheint dein Bewusstsein nicht anzusprechen." „Ich glaube auch. Darf ich jetzt gehen?", fragte Grave, denn es war zu anstrengend, weiterhin unschuldig dreinzusehen. „Gewiss." „Ach", drehte sie sich in der Schwelle nochmal um, „wie viele Punkte geben sie mir?" Dowell ging bereits zum nächsten Schüler und warf ihr einen Blick über die Schulter zu: „Das hängt davon ab, wie gut deine Ergebnisse in den folgenden Rückbildungen sind. Desto schneller du dich erinnerst, desto mehr Punkte erteile ich dir." Er wandte sich wieder ab, doch Grave machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann doch nicht beeinflussen, wie gut ich mich erinnern kann. Das ist ein ziemlich ungerechtes Verfahren." Dowell zuckte mit den Schultern, sah sie nicht an, sagte aber: „Nun, natürlich kannst du es beeinflussen. Du konzentrierst dich nicht genug. Du gibst dir nicht genug Mühe. Keine guten Ergebnisse, keine Punkte. Keine Punkte, keine Ausflüge." Grave rannte ins Oberzimmer ihrer leeren Hütte, nahm ein Kissen vom Bett, drückte es gegen ihr Gesicht und brüllte all ihren Frust hinein. Danach schleuderte sie es in die Ecke, hob die Matratze von der Federung und zog das blassgelbe Kleid von Kathleen, das diese ihr für das erste Date mit Henri geliehen hatte, hervor. Sie hatte es versteckt, bevor die Kalea die Sachen ihrer Mitbewohner abholen kamen, schlang jetzt die Arme um den weichen Stoff, hielt ihn sich an die Nase und schloss die Augen. Immer wieder kam ihr der Gedanke, dass sie nicht einmal wusste, wie Kathleen auf der Erde zu Tode gekommen war. Sie hatte keine Ahnung, wo Kathleen aufgewachsen war, ob sie Geschwister hatte, wie ihre Eltern hießen oder was ihre größten Wünsche und Träume auf der Erde waren. Grave konnte nicht erfassen, was sie mehr aufrüttelte: Das Wissen, die Trauer und die Wut darüber, was Kathleen und Jackson geschehen war, oder die Panik, dass Henri, Richard und ihr dasselbe widerfahren würde. Jetzt erschien ihr alles, was sie tat, wie gesteuert von Henris Worten am Vortag, als er in einer stillen Ecke am Bahnhof auf sie eingeredet hatte. Sie hatten die Einigung getroffen, dass Grave folgsam und unschuldig spielen müsste, während Henri darauf hoffte, dass Richard einen Plan vorlegen würde. Sie vertrauten auf den Erwachsenen und fühlten sich wieder wie hilflose Kinder. Grave verdammte sich dafür, dass sie auch nur eine Sekunde daran geglaubt hatte, dass man tausende dieser elternlosen Kinder aus reiner Gutmenschlichkeit in ein mühsam zusammengebasteltes Reich freilassen würde, obwohl sie ihren Nutzen bereits erbracht hatten. Es bedurfte sie nicht mehr Erfahrung auf Xenna, um zu wissen, worauf die Vatorax scharf waren: Kluge Köpfe, die heißblütig für Xennas Fortschritte arbeiteten und die Spitze anbeteten, und wesenlose Diener, die nicht dachten, sondern nur gehorchten, und patriotische, widerstandslose Bürger, die den Alltag zeichneten und die Kultur prägten. Unter keine dieser Kategorien fielen die Bewohner von Jonny City. Jetzt rang Grave mit sich, eine freundschaftliche Bindung zu Amelie einzugehen, ihr von den Geschehnissen zu erzählen und sie zu fragen, weswegen sie solch treffende Theorien aufgestellt hatte. Aber das würde ihre Unschuldsrolle bedrohen und Grave ahnte, dass Dowell sie fortschaffen und isolieren würde, würde sie sich auf Amelies Seite stellen und den Anderen erzählen, dass sie wie Tiere im Schlachthaus ihrer Hinrichtung zustrebten.

Xenna - Kinderheim der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt