Kapitel 6. Die erste Postkarte

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Graves Viertel, das sich Die Gesitteten nannte (recht diskriminierend, aber die klassifizierte Benennung hätte ebenso von Lorane stammen können) teilte sich ganz klar in zwei verschiedene Lager. Die Bewohner, denen es gelungen war, ihre Traumata zu überwinden und und die Gegenwart mit Optimismus zu füllen, griffen auf die Freizeitangebote zurück, schlossen Freundschaften und führten ihr Leben auf Xenna weiter. Diejenigen, für die die Gegenwart und die Trauer zu erdrückend geworden waren, schlossen Verbände aus stumm Leidenden, kapselten sich vom außerschulischen Geschehen ab und ließen sich nie außerhalb ihrer Hütten blicken. Zu ihnen wollte Grave nicht gehören, und dennoch spürte sie bereits am zweiten Tag auf Xenna, wie sie sich zu verändern begann und ihr einst kämpferisches Gemüt immer abgestumpfter wurde. Erst nach ihrem Tod fiel Grave auf, dass sie den Großteil ihrer Zeit auf der Erde mit den Gedanken in der Zukunft gelebt hatte, weil sich die Gegenwart nie mit ihren Traumbildern gedeckt hatte. Statt sich darüber zu freuen, eine gesunde Mutter an ihrer Seite zu haben, hatte sie sich bereits ausgemalt, wie schön es sich leben ließ, wäre sie erst einmal ausgezogen. Die Erleichterung, Henri als liebenden Freund zu wissen, war hin und wieder hinter den Grübeleien versunken, dass er eines Tages ein besseres Mädchen kennenlernen würde. Es war Grave immer nur darum gegangen, was das Leben am nächsten Tag für sie bereit hielt, ob sie später ihr Traumhaus kaufen könnte oder als berühmte Ärztin in die Geschichte gehen würde. Jetzt war Grave erstmals gezwungen, in der Gegenwart zu leben, weil ihr Xenna keine greifbare Zukunftsperspektive bot, und plötzlich bemerkte sie, wie wunderschön ihr Leben auf der Erde gewesen war; Auch ohne ihr Traumhaus, eine blühende Karriere oder Henri als treuen Ehemann. Obwohl diese Gedanken nicht zu den oberflächlichen Gesprächen passten, die Grave und Kathleen führten, teilte Grave die Erkenntnisse am Nachmittag mit ihrer Mitbewohnerin. „Am Anfang hatten wir alle eine depressive Phase. Die Kunst ist es, dieser dunklen Spirale schnell zu entkommen, bevor sie dich ganz schluckt", hatte Kathleen zu Graves Überraschung mit Feingefühl geantwortet. Langsam verstand Grave, aus welchem Grund sie von Livian Arkus in Kathleens Hütte gesteckt worden war. „Und wie gelingt das?", hatte Grave gefragt. „Indem man sich auf die guten Sachen fokussiert!" Von Kathleen erhielt Grave eine ausgiebige Führung durch das Gesittetenviertel. Zuerst bewies Kathleen, dass es in Jonny City jede Menge Tratsch und Klatsch gab. Es war, wie Lorane prophezeit hatte: Vororte boten einen fruchtbaren Boden für Geschwätz. „Zuerst unsere Straße", verkündete Kathleen, die Hände aufgeregt reibend und mit dem Kinn auf die erste Hütte deutend. „Dort drinnen leben Stephanie und Isabelle. Sie waren wohl schon auf der Erde beste Freundinnen, total verrückt. Man sagt, dass sie von ihren Familien auf ein Internat geschickt wurden und dort vor drei Jahren zusammen gestorben sind." Grave starrte auf die erste Hütte der Straße und Kathleen sank ihre Stimme in ein Murmeln: „Wenn du mich fragst: Gemeinsamer Suizid oder ein tragischer Unfall." „Sie sind zufällig beide im selben Monat geboren, waren Freundinnen, und sind dann auch noch zusammen gestorben?", schluckte Grave, und im selben Moment kam ihr der Gedanke, dass auch Skylar und Henris bester Freund Noah im November 1981 Geburtstag hatten. „Sterbt bloß nicht früh", dachte sie jetzt. „Und dort, in der Hütte Nummer zwei", fuhr Kathleen fort, den Arm zur gegenüberliegenden Straßenseite gestreckt, „da lebt Jacksons bester Freund Norman, den hast du ja schon kennengelernt, mit seinem Mitbewohner Connor. Connor sieht wirklich aus wie ein Connor", flüsterte Kathleen leise, weil die Tür zu Normans Hütte weit offen stand. Auch Jackson war gerade dort drinnen und Grave hörte die Jungs im Inneren laut lachen. „Wie sieht ein Connor denn aus?", fragte Grave, denn im Gegensatz zu Vornamen wie Jessica oder Kevin hatte sie keine Vorstellung von einem typischen Connor. „Schmächtig und klein", beschrieb Kathleen, ihre Hand auf Brusthöhe in die Luft haltend, um anzudeuten, wie klein ein typischer Connor in ihren Augen war. Kathleen erklärte, dass Connor ein Nerd war, der eine Leidenschaft für Xennarsche Chemie entwickelt hatte und dass ihre Hütte inzwischen zu einem kleinen Versuchslabor umfunktioniert worden war. „Weißt du was? Ich zeige es dir einfach", beschloss Kathleen in einem spontanen Impuls und zog Grave in die offene Hüttentür der Nummer zwei.

Xenna - Kinderheim der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt