Kapitel 3. Als der Teufel nach Cobury kam

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Am ersten Sommertag des Jahres 1798, zwei ganze Jahrhunderte bevor Gravity an jenem verhängnisvollen Weihnachtsvormittag von einer Lawine überrollt wurde, da stand etwa vierzig Meilen nördlich von London ein Wirtshaus. Obwohl diese Schänke bereits einhundertachtzig Jahre vor Gravitys Geburt abgerissen worden war und sich dort, wo sie einmal gestanden hatte, nun lediglich eine steinerne Gedenkstätte und ein mürbes Feld unter taubengrauem Himmel erstreckte, gab es zu Gravitys Zeit im Internet noch uralte Zeichnungen und Archivbeiträge von dem Wirtshaus. Einmal hatte sich Grave, da war sie fünfzehn Jahre alt gewesen, in Sternvilles Bibliothek ein Buch mit Bürgergeschichten Englands geliehen, es allerdings nur bis zur fünfzigsten Seite gelesen und dann gelangweilt nie wieder zur Hand genommen. Völlig ahnungslos darüber, wie nah sie der Geschichte von Coburys Wirtshaus gekommen war, denn hätte Grave damals weitergelesen, wäre sie im letzten Kapitel auf eine Liste mit den zwanzig schrecklichsten Verbrechen Englands gestoßen und hätte auf dem zehnten Platz über die Familie Hillen und ihre Schänke gelesen, und das wäre tatsächlich ein gigantischer Zufall gewesen. Manche, die von dem Verbrechen gehört hatten, lockte es noch zweihundert Jahre später in das englische Dörfchen Cobury. Die Schaulustigen spazierten zu der Stelle, wo das Wirtshaus gestanden hatte und ernteten auf dem Weg dorthin verärgerte Blicke von Coburys Bewohnern, die kopfschüttelnd über ihre Gartenzäune stierten und den Kriminaltourismus verurteilten. Schließlich hatte sich Cobury zwischen 1798 und 1999 grundlegend verändert und weder das Haus des Hufschmieds, noch die alten Werkstätten und die Läden des Apothekers existierten mehr. Dafür wuchs der Rasen hinter der Kirche noch, wo damals bei festlichen Gelegenheiten die jungen Burschen Fußball spielten und Ringkämpfe veranstalteten oder das ganze Dorf tanzte. Dort, wo heute eine junge Mutter mit ihrem Smartphone Bilder von ihrer kleinen Tochter schoss und etwas abseits zwei Teenager einen Joint rauchten, lieferte sich der neunjährige Jonny Hillen im August 1798 einen Schwertkampf mit seinem zehnjährigen Bruder William. Ausgestattet mit zwei langen, abgestumpften Stöcken schwangen die Brüder ihre Arme durch die schwüle Sommerluft. Die Vormittagssonne brannte hinunter auf die Dächer von Cobury und die hölzernen Gartentüren standen weit offen, sodass auch weitere Kinder aus den Gärten liefen und sich auf der gepflasterten Straße zum Spiel versammelten. Die Hunde der Nachbarschaft verzogen sich an die wenigen, schattigen Flecken unter den Obstbäumen und bedienten sich der fauligen Früchte, die verfrüht zu Boden gefallen waren. Auf der Wiese hinter der Kirche blühten Margeriten neben violettem Lerchensporn und drei Mädchen in pastellfarbenen Leinenkleidern plauderten miteinander. „Diese Hazel Hillen", fauchte das blonde Mädchen und fächerte sich schwitzend Luft zu, „es ist, als würde sie die Männer riechen. Sobald welche da sind, kann man sicher sein, dass sie auftaucht." „Findet ihr sie denn schön?", wollte das zweite Mädchen wissen. „Schön? Sieh doch, wie sie ihren Rock trägt", zischte das älteste Mädchen voller Abscheu und hob ihr langes Kleid hoch, sodass ihre blassen Knöchel aufblitzten. „Und wie sie ihre Bluse geöffnet hat bis zum Busenansatz!" „Hazel geht zwar zur Kirche, ich bin mir aber sicher, dass..." „Pst", unterbrach das jüngste Mädchen und wies mit dem Kopf auf die Brüder, die in unmittelbarer Nähe ihre Stöcke aufeinander stießen. „Pah! Meine Mutter sagt, dass Mädchen mit Hazels Benimm später nicht einmal in größter Not geheiratet werden", fuhr die Zweite ungehemmt fort. Jonny schnappte den Namen seiner großen Schwester auf und folgte dem Blick der Mädchen zum Kirchbrunnen, wo Hazel stand, die seidigen Haare hochgesteckt und das Gesicht entzückt verzogen, während zwei Männer sich vor ihr aufbauten wie stolze Hähne und um die Wette scherzten. Willie hatte den Moment der Abwesenheit ausgenutzt und seinem kleinen Bruder den stumpfen Stock mit leichtem Druck in den Oberbauch gestochen. „Tot bist du", knirschte er siegesbewusst, ließ den Stock fallen und hob die Arme triumphierend in die Luft. Als der Nachmittag einbrach zogen sich lange Wolkenschleier den blauen Himmel entlang als hätte ein Malerpinsel sie gezogen und Jonny erkannte die Form einer Pferdekutsche in den Wolken. Er lief neben William über die Straße Richtung Wirtshaus und grübelte darüber, was sein Vater ihm wohl mitteilen wollte mit dieser Kutsche. Bevor James Hillen vor drei Jahre einer schweren Krankheit erlegen war, hatte er seinen Kindern versprochen, ihnen aus dem Himmel kleine Botschaften zu schicken, indem er Wolken für sie zeichnete. William hatte mit dem Lesen der himmlischen Wattebauschen aufgehört, schließlich war er inzwischen elf Jahre alt und zog keine Schlüsse mehr aus den Drachen, Blättern oder Teekannen, die die Wolken über Cobury zeichneten. Also behielt Jonny für sich, dass er eine Pferdekutsche im Himmel erkannte und diese eindeutig bedeuten musste, dass er aus Cobury wegfahren sollte. Natürlich ging Jonny nicht davon aus, dass ein fluchtartiges Verlassen des Dörfchens gemeint sein könnte, also wollte er seine Großmutter später fragen, ob sie ihn zum nächsten Einkauf nach London mitnehmen würde. Das Wirtshaus der Familie Hillen lag am Ende der gepflasterten Straße. Es war aus gedämpft roten Backsteinen errichtet, Rosenstöcke reichten an den Seiten bis zur Dachrinne und das Schild mit dem goldenen Löwen schwang den schmiedeeisernen Arm über die geschlossene Eingangstür und glänzte in der Sonne. Jonny und Willie nahmen den Hintereingang in die Küche, wo ihre Mutter Audrey wie gewöhnlich geschäftig und voller Vitalität hin und herlief. „Da seid ihr Buben ja. Sperrt die Vordertür auf, wir öffnen in wenigen Minuten!" Auf dem Hackblock lag schon ein üppiges Stück rohes Rindfleisch und Audrey spickte es mit einer feuchten Mischung von Brotkrumen, Zwiebeln und Kräutern. Daneben stand die Großmutter und verteilte sorgfältig gehackte Apfelstückchen auf ausgerolltem Teig, schnitt sie in Mondform und tröpfelte heißes Sahnekaramell darüber. Niemand in ganz England, so hatte Jonnys Vater immer geschworen, zauberte köstlichere Nachspeisen als Elizabeth Hillen. Dass das Wirtshaus der Hillens die Bewohner der umliegenden Dörfer anzog wie das Licht die Motten und es oft zuging wie in einem Bienenhaus lag wohl daran, dass die Rezepte von Jonnys Mutter und seiner Großmutter schmackhaft auf den Zungen schmolzen, sie den Kochlöffel niemals in fremde Hände gaben und die sechzehnjährige Hazel zusätzlich wusste, wie man die Gäste bei Laune hielt. Sie nahm ihre Rolle als schönes Schankmädchen sehr ernst und köderte damit jedes männliche Wesen, das Cobury durchquerte und anschließend in der Schänke landete. Ihres blühenden Äußeren bewusst stand Hazel nun in der Tür zur Gästekammer lehnend und naschte von dem holländischen Ingwerbrot, das einer ihrer Verehrer ihr zurückgelassen hatte. „Wir möchten auch ein Stück", forderten die Brüder, ehe die Mutter sie aus der Küche scheuchte wie lästige Fliegen. Gegen fünf Uhr waren die meisten Tische der Wirtschaft belagert und in der Küche herrschte üblicher Betrieb. Eins der Küchenmädchen lag mit einer hartnäckigen Sommergrippe unpässlich, ein Anderes hatte Tags zuvor einen Sonnenstich erlitten, und so half Jonny in der Küche und William wurde als Schankbursche eingeteilt. Jonny brütete alleine über dem Herdfeuer und drehte zwei Bratspieße, wohlbemüht, das Fleisch von allen Seiten gleichmäßig braun zu grillen. „Mutter!" Hazel stieß die Küchentür mit dem Fuß kräftig weit auf, einen wackeligen Turm dreckiger Porzellanteller in den Händen und balancierte hinüber zu Audrey. In ihren moosgrünen Augen glänzte feurige Anspannung. „Mutter! Soeben sind drei Männer aus London zum Speisen gekommen! Du glaubst nicht, wer sie sind! Ich habe ihnen den besten Tisch am Spitzbogenfenster gegeben!" Sie hob die Teller in den Küchenbrunnen und winkte Jonny zweitrangig zum Abwaschen hinüber. „Ach ja? Wer denn?" Sofort hatte Audrey interessiert die Schürze ablegt, unterbrach das Rühren der Eier und folgte ihrer Tochter durch die Küchentür hinaus. „Wer es wohl ist?", fragte Jonny seine Großmutter und ärgerte sich darüber, dass in der Küche zwischen den Bratrohren und Hängekesseln immerzu gähnende Langeweile herrschte. Über Elizabeths faltiges Gesicht, aus dem sich ihre verblühte Schönheit weiterhin erahnen ließ, hatte sich ein gnadenvolles Lächeln gelegt. „Na auf! Geh schon nachsehen! Leg den Bratspieß beiseite und ich wasche das Geschirr für dich."

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