Zwei Wochen nach ihrem Tod sollte Grave ihren ersten, großen Lohn erhalten. Vor Dienstschluss am Haxetag hatte Steve Dowell die Rezeption vom Gesittetenviertel aufgesucht und dem Kalea persönlich mitgeteilt, dass er Gravity für ihre letzte Rückbildung zehn Punkte erteilte. Grave gelang es im Unterricht inzwischen, zehn Minuten lang aktiv in der selben Szene zu verweilen, chronologische Abläufe mit in die Gegenwart zu bringen und so konnte sie nach jedem Erwachen bereits eine kurze Geschichte erzählen. Steve Dowell hatte Grave nicht in seine Feststellung eingeweiht, dass er nie zuvor eine Schülerin gehabt hatte, die schneller die Kontrolle über ihr Bewusstsein erlangen konnte, doch den verwaltenden Livian vertraute er sich an und gemeinsam mit den Aufsichten beschloss er in den späten Stunden des Haxetages, Graves gute Arbeit künftig besser zu entlohnen. Als der Kalea in den frühen Morgenstunden vom Mor Krenn Tag Graves Hütte aufsuchte, um ihr von der Neuigkeit zu berichten, traf es Grave wie ein Blitzschlag. Sie musste nicht rechnen, um herauszufinden, dass ihr Verdienst schon heute für einen Ausflug mit den Marsburgs reichte, zumal der Kalea gewinnversprechend schmunzelte, und so entzündete sich in Graves Hirn ein Freudegewitter. Sie drehte sich durch das Oberzimmer und sprang umher, um der grenzenlosen Heiterkeit und den steigenden Energiestößen einen Auspuff zu geben, hörte aber damit auf, als sie Jacksons bittere Blicke bemerkte. Kathleen hingegen bot Grave an, dass sie eins ihrer besten Kleider von Edgars anziehen könnte und während der Kalea verschwand, um den Katalog mit möglichen Ausflugszielen zu holen und die Formulare für Graves Abwesenheit auszufüllen, standen die beiden Mädchen aufgeregt tuschelnd vor dem Wandschrank. Grave legte keinen besonderen Wert darauf, hübsch auszusehen, denn unter diesen Umständen war ihr ihr Erscheinungsbild völlig egal, aber sie ließ sich von Kathleen ein paar Aufzüge zeigen, um die Vorfreude mit jemandem zu teilen. „Das da? Das ist ziemlich kurz. Der Arme saß ewig in Haxeth, du solltest ihm zum Trost ein bisschen Haut zeigen", grinste Kathleen und wedelte mit einem blassgelben Kleid vor Graves Nase. Grave ging in die Galerie, zog das Kleid mit den Spagettiträgern über und drehte sich vor Kathleen, damit diese sie aus allen Winkeln begutachten konnte. „Das Kleid sieht scheiße aus und ihr nervt", gab auch Jackson seinen Beitrag, ehe er vom Bett aufstand und zu Norman flüchtete. Dann stellte sich die Frage, wohin Graves erstes Date mit den Marsburgs nach ihrem Tod gehen sollte. Auch hierbei stand ihr Kathleen als Beraterin zur Seite und die Mädchen blätterten an der Rezeption durch das dicke Buch, das aufgeschlagen auf dem Tresen lag und für Ausflugsziele warb wie ein Reisekatalog. Auch Kathleen hatte schon Ausflüge unternommen, zwar nicht mit ihrer Familie, aber sie hatte sich von ihren Punkten dreimal einen Stadtspaziergang durch Killiax mit Jackson ergattert, bei dem, wie sie jetzt verkündete, Jacksons schlechte Laune alles vergiftet hatte. Grave versuchte abzuwägen, welche Wahl Henri und Richard treffen würden und was ihr am meisten zuspräche, wäre sie die letzten Wochen in einem Kerker eingesperrt gewesen. Da gab es die Stadtkulissen von Killiax, Bummeln durch die Hauptstadt oder das Nachbardorf Monte Magriz, die Heimat der Livian, die kleinen Museen von Nerovath, Gondelfahrten durch das Dark Edan auf Schwebekabinen wie Flugobjekten, Cabo-Fahren durch die Lawagletscher von Culver oder die Besichtigung der Forschungsviertel Vintessor und Sethessor. „Das würde Richard bestimmt am besten gefallen", bemerkte Grave, da warf ihr der Kalea einen irritierten Blick zu. „Richard?", gurgelte er, „ich habe eingetragen, dass du mit Henri gehen möchtest." „Äh, mit beiden?", stutzte Grave. „Oh, nein, so läuft das nicht. Du kannst nur eine Person auswählen!" „Wieso?", fragte Grave, und auch Kathleen runzelte die Stirn. „Wir brauchen eine Garantie, dass ihr brav zurückkehrt. Richard ist der Pfand." Grave schnaufte, kurz rang sie mit sich, ob es nicht ratsam war, Richard als Autoritätsfigur zu treffen und mit ihm über das Projekt zu sprechen, doch dann überwog die Sehnsucht nach ihrem Freund. „Na schön, und wie komme ich überhaupt zum Ziel?", erkundigte sie sich. „Heute fahre ich dich noch hin und hole dich später wieder ab. Henri wird von den Aufsichten gebracht", verkündete der Kalea, „wenn du aber möchtest, kannst du dir am Raheltag vom Zeitarzt Andreas Bauer unser Zugsystem zeigen lassen. So machen wir das bei den älteren Haxeths, wenn sie sich in Jalevo auskennen. Es gibt nämlich auch eine Haltestation hinter Jonny City." Grave nickte energisch, glaubte aber, dass diesmal sogar Kathleen ein wenig neidisch wurde, denn sie schluckte und sah geistesabwesend zu den Postkarten. „Ich glaube, heute ist ein Theaterstück in Killiax, vielleicht wollt ihr dorthin gehen?", schlug der Kalea dann vor, und er blätterte mit seinen narbigen Fingern zur zehnten Seite, die das Vatoranische Rundtheater der Hauptstadt zeigte. Grave warf Kathleen einen fragenden Seitenblick zu, doch ihre Mitbewohnerin schien gerade auf eine andere Idee gekommen zu sein. Sie blätterte sich rasch durch das Buch, schlug es mittig auf und drückte den Zeigefinger auf die linke Seite. „Zuna Peak! Jenny war mal dort und meinte, dass es total schön ist. Es ist mitten in der Natur und ruhig. So würde ich das beim ersten Mal angehen", riet sie, und Grave spürte, dass sie ihre kurze Eifersuchtswelle überwunden hatte und sich ehrlich für sie freute.
DU LIEST GERADE
Xenna - Kinderheim der Toten
Fantasy"Wir töten nicht. Ihr kamt schon tot zu uns." Die junge Kanadierin Gravity Siverston und ihr Freund Henri Marsburg freuen sich Weihnachten 1999 auf harmonische Feiertage mit der Familie in den kanadischen Rocky Mountains. Kurz vor der Jahrtausendwe...