Kapitel 8. Der Rattennebel

1 0 0
                                    

Graves euphorischer Zustand über den Ausflug mit Henri trug sie durch die nächsten Tage. Kathleen bestand darauf, jedes Detail des Treffens zu erfahren und durchlöcherte Grave mit Fragen. Die Mädchen hatten immer darauf geachtet, dass Jackson nicht in der Hütte war, und dann verfiel Grave in Schwärmereien über Henris treuen Charakter oder Richards emotionale Intelligenz. Sie musste sich vor ihrer Mitbewohnerin nicht zurückhalten, denn Kathleen hörte sich all diese Erzählungen mit glänzenden Augen an und Grave spürte, dass ihre Mitbewohnerin Glück aus ihrer eigenen Freude trug. Graves Wut auf das Imperium wuchs, besonders darüber, dass man Kathleen nicht versprochen hatte, sich die Mühe zu machen, ihre Familie nach dem Tod ebenfalls in den Untergrund zu holen. Über Kathleens Leben auf der Erde hatte Grave noch immer nicht viel in Erfahrung bringen können und ihre Mitbewohnerin war Meisterin darin, jeder aufschlussreichen Frage auszuweichen.

Nach der Traumbesprechung am Raheltag war Grave am frühen Abend nochmal zur Zeitschule zurückgekehrt, weil sie ihr Traumtagebuch im Klassenraum vergessen hatte. Im Gegensatz zur Führung ihrer Rückbildungs-Ordner waren Dowells Schüler verpflichtet, ihre Träume nach dem Erwachen selber niederzuschreiben und am Raheltag mit Dowell zu besprechen. Der Kalea an der Rezeption segnete Graves Eintreten ab und erlaubte ihr, die Treppe alleine hinaufzugehen, um ihr Heft aus dem zweiten Stock zu holen. Die Villa schien leer, nur ein paar Kalea in weißen Kitteln wischten den Boden und polierten die Türklinken. Jetzt, da Schüler und Lärm fehlten, lag etwas Verlassenes, Einsames, beinahe Trauriges in der Atmosphäre der Zeitschule. Grave wollte rasch wieder hinaus, ihre Füße trugen sie blitzschnell die Stufen hinauf und sie hoffte, dass Dowell noch im Klassenzimmer war und an den Ordnern arbeitete, doch die Tür war bereits abgeschlossen. Grave seufzte, kehrte um und hielt plötzlich inne. Vom anderen Ende des Korridors wehten gedämmte Stimmen zu ihr. Die Tür zum letzten Raum stand einen Spalt weit offen und Grave konnte nicht gegen den Impuls ankämpfen, näherzutreten. Jedes Wort, das es ihr aufzuschnappen gelang, hätte wertvoll und aufschlussreich sein können, also schlich sie vorsichtig den Korridor entlang, denn die letzte Putzkraft war soeben im Treppenhaus verschwunden. Zu Graves Überraschung stellte sie fest, dass Steve Dowell keineswegs immer ernst und streng sprach, denn jetzt hörte sie ihn hinter der Tür lachen, scherzen und ausgelassen plaudern. Fast hätte Grave die Stimme ihres Zeitarztes nicht erkannt, denn die Leichtigkeit nahm die gewohnte Schärfe aus seinen Silben. Hier schien gerade eine Lehrerparty stattzufinden, es wurde diskutiert und spekuliert, doch bevor Grave den Inhalt ganzer Sätze aufschnappen konnte, kam der Rezeptionist die Stufen in den zweiten Stock hinauf: „Ich erfuhr gerade: Steve Dowell hat dir das vergessene Heft bereits in deine Hütte bringen lassen!" Als Grave zurück in ihr Heim kehrte, fand sie das Traumtagebuch auf dem Kreuzfußtisch vor und Grave runzelte die Stirn, als sie sah, dass Dowell ihren letzten Eintrag mit einer Notiz kommentiert hatte. Interessant. Bei erneutem Träumen dieses Traumes direkt nach dem Erwachen niederschreiben, Dowell. Jetzt erst fiel Grave auf, dass sie das Heft nur vergessen hatte, weil Dowell es mit zu seinem Schwebepult genommen und Grave danach nicht zurückgegeben hatte. Es schien, als habe ihm der notierte Traum einen Anlass gegeben, die Informationen mit seinen Kollegen zu teilen oder in Ruhe über Graves Zeilen zu lesen. „Was hast du denn geträumt?", wollte Kathleen im Oberzimmer wissen, nachdem Grave von Dowells Anmerkung erzählt hatte. Inzwischen lebten die Mädchen praktisch alleine, denn Jackson schlief immerzu bei Norman und fand, dass die Hütte zu klein für drei Bewohner war, erst recht, wenn er sie mit zwei Mädchen teilen musste. „Dass ich ermordet werde", berichtete Grave, die Stimme erhebend, um den lauten Glockenschlag draußen zu übertönen. Es war das selbe Spiel wie immer: Die Mädchen unterhielten sich, während sie auf die Betäubung durch das Neptium warteten. „Das träumt doch jeder mal", zuckte Kathleen mit den Schultern. „Bestimmt, aber ich war in dem Traum klein und alles wirkte immer so... komisch." „Vielleicht träumst du heute Nacht wieder davon?" „Ich hoffe nicht."

Xenna - Kinderheim der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt