„Gravity, sag mal Mama. Ma-Maaa." „Sag lieber Pa-Paaa. Los, sag Papa! Oh, siehst du, sie will eindeutig ein P machen." In der Welt der Gravity Siverston hatte es in achtzehn Jahren oft tagelangen Regen gegeben, aber ihre Welt war auch erleuchtet von wunderschönem Sonnenschein. Diese Momente zogen noch einmal blitzschnell an Grave vorbei, während über ihnen eine atemberaubende Melodie an Stimmen lag: „Gravity, vergiss nicht dein Pausenbrot! - Gravity, hör doch auf, ständig deine Nägel abzukauen - Schätzchen, leg den Zahn unter das Kopfkissen, die Zahnfee wird kommen - Gravity, wieso sagst du deiner Lehrerin, ich würde dich hassen? Denkst du, ich würde dich täglich durch die Gegend fahren und dir schöne Sachen kaufen, würde ich dich hassen?" Über Loranes Stimme mischte sich die von Henri, noch bevor er seinen Stimmbruch hatte: „He, Grave, wie lange kannst du unter Wasser die Luft anhalten? - Das ist mein Bruder Ben. Er ist schon dreizehn... - Grave hat fünf Tore geschossen, sie soll in unser Team!" Mit jeder Silbe schien Henris Stimme dunkler zu werden: „Dein Vater ist beschissen, wenn er nicht erkennt, dass er den wertvollsten Menschen aus seinem Leben gestoßen hat - Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich - Alles gute zum Geburtstag, Schatz - Grave, guck mal, guck mal schnell! Dort draußen sitzt ein Igel!" Bald schon waren die Sätze von Lorane und Henri von einem wirren Durcheinander verschiedenster Stimmen eingeholt: „Grave, keiner will mit dir spielen - Du hast Henri nur bekommen, weil er Mitleid mit dir hat - Ihre Tochter hat eine Mitschülerin mit einem Englischbuch geschlagen - Gravity braucht eine anständige Bezugsperson, Lorane - Grave, zeig mir, wie du so schnell rennen kannst! - Grave, du hast dieses Jahr genau zwei Mal deine Hausaufgaben gemacht - Ihre Tochter ist ein tolles Mädchen, also hören sie auf, so zu tun, als wäre sie der Teufel - Grave, probier mal einen Zug von der Zigarette..." Wie ein rasendes Uhrwerk, das schlagartig alle Bewegungen einstellte, stoppte das Tonband in Graves Kopf und es folgte ein leises Surren.
Es schien, als hätte Grave ein letztes Mal einen ihrer seltsamen Albträume. Mit einer dichten Nebelwolke im Gehirn träumte sie wie eine Gestalt in einem schwarzen Umhang, die Kapuze weit übers Gesicht gezogen, nach Graves Handgelenken griff und ihr ins Gesicht sah. Grave blinzelte an der Gestalt vorbei auf ein paar nackte Körper, die wie berauscht umherliefen. Als Grave in das Gesicht der Gestalt blickte, erkannte sie Verbrennungen vom dritten Schweregrad, vielleicht Verbrühungen. Einst hatte Grave eine Reportage über Brandopfer gesehen. Freiliegende, gelblich verfärbte Zähne, geschmolzene Gesichtshaut und dunkle, hautübergossene Augen hatten das Gesicht der Gestalt bis zur Anonymität entstellt. „Wie heißt du und wann bist du wo geboren?", röhrte die krächzende, heisere Stimme des Verbrannten. Obwohl Gravity das Gefühl hatte, keine Silbe könnte bei diesem Rauschzustand über ihre Zunge rollen, konnte sie dennoch antworten. Sie lallte noch ein paar Sätze ohne Zusammenhang, die immer wieder auf das Wort Lawine hinausliefen. „Wer ist bei dir gewesen?", ertönte es gurgelnd aus den narbigen Lippen der Gestalt und Grave nannte die Marsburgs beim Namen. Dann berührten ihre Füße plötzlich nicht mehr den Boden und alles wurde schwarz.
„Verzeih, das ist ein wenig unangenehm. Es fördert den Prozess des Aufwachens", erklärte eine raue, sanfte Männerstimme wahrheitsgetreu: Der Nebel in Graves Gehirn begann sich zu lichten und als die Finger von ihren Lidern abließen, blinzelte sie in das faltige, ovale Gesicht eines Mannes. Unter seinen tiefbraunen Augen klafften dicke Tränensäcke und mit gutmütigem Ausdruck fixierte er Grave. „Aufgewacht?", fragte der Fremde zufrieden prüfend. Grave fühlte sich elender als an dem Morgen nach ihrem Abschlussball, und da hatte sie die Nacht im Abendkleid über der Toilettenbrille verbringen müssen. Ihr brummender Schädel drohte unter einem heftigen Stechen zu platzen, als wäre Graves Gehirn zu groß für den Kopf geworden. Die Augen unter Schmerzen zusammengekniffen bat sie den Mann, ihr Schmerztabletten zu geben. „Das hört in ein paar Minuten auf. Ist ganz natürlich, wenn man in den Zyklus eingreift", erklärte er. Obwohl Grave keinen blassen Schimmer hatte, was damit gemeint war, nickte sie erleichtert. Mit jeder vorbeiziehenden Sekunde drängten sich schleichend Erinnerungen zurück in Graves Kopf: Die unendlichen Schneemassen, das rabenschwarze Betongrab, ihre abgebissene Zungenspitze. Doch es fehlte kein Stück ihrer Zunge. Sie musste alles nur geträumt haben. Nein, sie musste in einem monatelangen Koma gelegen haben. Und dieser Kerl war wohl ihr Lebensretter - Ein hoher Professor - Danach sah er auch aus. Sein silbergraues Haar war mit glänzendem Gel sorgfältig nach hinten gekämmt und in den weißen Klamotten strahlte er ärztliche Autorität aus. „Ich bin Livian Arkus", stellte er sich vor. Seltsamer Name. Grave wartete noch auf das „Doktor" oder das „Professor", doch es kam nicht. „Du bist Gravity... Siverston? Haben sie deinen Namen richtig notiert?" Grave nickte schwach und wandte erstmals den Kopf, um ihren Blick durch den Raum gleiten zu lassen. Einem normalen Krankenzimmer ähnelte er keinesfalls. Er war edel eingerichtet, die Wände von glänzendem, bernsteinfarbenem Gestein verkleidet, ein prächtiger Kronleuchter hing von der Decke und der Großteil des Bodens war von einem majestätischen Teppich bedeckt. Nicht einmal das Büro in der Kanzlei ihres Vaters glänzte derartig herrschaftlich. Grave richtete den Blick auf ihren zarten Körper und erkannte, dass sie mit einem weißen Hemd bekleidet war. Auch das Bett, auf dem Grave lag, war kein Krankenbett, sondern glich viel mehr einer dunkelbraun gelederten Designercouch. „Wo... Wo bin ich?", stotterte sie mit schwerer Zunge. „In meinem Büro", entgegnete Livian Arkus. „Okay. Wo sind die anderen? Geht es ihnen gut?", lallte Grave. Livian Arkus räusperte sich, trat ein wenig näher und kreuzte die Arme über seiner Brust: „Sag mir, du bist am fünfundzwanzigsten November 1981 geboren? Nicht, dass hier noch ein Missverständnis vorliegt und die Kalea uns eine Falsche geschickt haben. Das ist schon passiert, herrje..." Ein eiskalter Schauer lief über Graves Rücken und ihr Herz machte einen entsetzten Satz. Geburtstag? Kalea? Als hätte man ihr einen Kübel eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet fuhr Grave hoch und starrte Arkus mit geweiteten Augen an: „Sind Sie mein Arzt? Wo sind... Bringen Sie mich zu Henri oder zu meiner Mutter!" Es schien, als würde Arkus nach einer Antwort suchen, doch Grave war nicht bereit, tatenlos auf dem Sofa zu sitzen und ihm dabei zuzusehen. Sie erhob sich schwankend, taumelte zur großen Tür und wollte an der vergoldeten Klinke ziehen. Nichts. Sie waren eingeschlossen. Mit dem Gefühl, man hätte ihr gerade ein Korsett angelegt und würde es jetzt immer enger schnüren, fuhr Grave um und starrte Arkus auffordernd an: „Ich möchte hier raus. Ich möchte zu meiner Familie!" „Nun, das geht nicht. Wir müssen uns jetzt ohnehin unterhalten." „Sie dürfen mich nicht in einem Raum einschließen und mir meine Familie verweigern! Das ist Freiheitsberaubung! Meine Eltern sind Rechtsanwälte und sie werden Sie verklagen! Wir werden Sie anzeigen!" Es war wohl das erste Mal in Graves Leben, dass sie diese Karte spielte. Arkus rührte sich nicht von der Stelle und beobachtete Grave gespannt. Dann, als sie seinen abwartenden Blick erwiderte, begann Arkus, seinen Kopf in den Nacken zu legen und aus tiefstem Leibe an die Raumdecke zu kichern und zu glucksen: „Das war grandios! Ich habe ja schon einiges gehört, aber das mit den Anwälten, das..." Er brach in schallendes Gelächter aus. Maßlos verwirrt und verängstigt stand ihm Grave gegenüber, die Arme hilflos vom Körper baumelnd wie ein kleines Kind, und hörte das Echo seiner krächzenden Lache. Sie gab sich einen inneren Ruck und versuchte, so angsteinflößend wie ihre Mutter bei gerichtlichen Verhandlungen auszusehen. Lorane starrte ihre Feinde eindringlich an und zeigte, abgesehen von der trockenen Wut, keinerlei Emotionen. Unter ihrem stechenden Blick knickte jeder strenge Schuldirektor, jeder unhöfliche Kassierer und selbst der ein oder andere Richter einfach weg. Jetzt hoffte Grave, dass sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter möglichst treffend kopieren konnte und räusperte sich zu einer Forderung mit krampfhaft aufgelegter Strenge: „Ich möchte, dass Sie mir sagen, wo ich bin, was mit mir passiert ist und wo Henri Marsburg, Richard Marsburg und meine Mutter Lorane Siverston sind!" Grave ging nun davon aus, Opfer von einer unglücklichen Verwechslung geworden zu sein oder sich in den Fängen irrer Wissenschaftler zu befinden. Letzteres war wahrlich nicht unzutreffend. Der Lorane-Blick schien zumindest einen kleinen Funken Wirkung zu zeigen, denn Livian Arkus deutete auf einen schwarzen Schwingstuhl, der in der Mitte des Raumes vor einen Schreibtisch geschoben stand: „Bitte setz' dich doch." Grave wollte ihre frische Autorität keinesfalls verlieren und schritt möglichst selbstsicher zu dem Stuhl, um sich kerzengerade darauf niederzulassen. Livian Arkus, den gackernden Gesichtsausdruck abgelegt, nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. „Ist das hier die Hölle?", zischte Grave in Anbetracht der Lawine, obgleich ihr klar war, dass sie ja noch leben musste. „Nein, das ist die Dynastie der Wissenschaft. Nun, Gravity. Bist du gut in Physik gewesen?", setzte er an. „Ja", log Grave, die jede Kleinigkeit nutzen wollte, um respekteinflößend zu erscheinen. In Wahrheit war Physik das einzige Fach, indem sie zwei Jahre lang Nachhilfe brauchte und dennoch kläglich schlechte Noten hatte. „Nun, dann sag mir, kannst du mir die Grundelemente der Welt nennen?", forschte Livian Arkus. Wie gerne hätte Grave ihren ehemalig verhassten Physiklehrer Mr. Kailer jetzt neben sich. Es wäre ihr auch ganz egal, dass er Mädchen in den Ausschnitt schielte und Grave bei jeder Hausaufgaben-Besprechung die Hand auf die Oberschenkel legte. „Mhm... Wasser, Feuer, Luft..." „Nicht die Elemente der Erde", fuhr Livian Arkus kopfschüttelnd dazwischen, „die des Universums. Des gesamten Lebens." Grave hatte keinen blassen Schimmer, worauf dieser Wahnsinnige hinaus wollte. Sie verfolgte nur ein Ziel, und das war, dieses fremde Zimmer sofort zu verlassen und nach den anderen zu suchen. „Ich helfe dir auf die Sprünge. Raum, Zeit, Materie und Energie", zählte Livian Arkus mit den Fingern auf, den Daumen abwartend in die Luft haltend, als würde er auf ein fünftes Element von Grave warten. Mit einem irritierten Kopfschütteln machte Grave Anstalten, von ihrem Stuhl aufzustehen: „Haben Sie einen Vorgesetzten?" „Das Bewusstsein. Das menschliche Bewusstsein, Lucilar genannt", fuhr Livian Arkus fort und zeigte seinen Daumen noch einmal nachdrücklich, bevor er die Hand fallen ließ. „Aus physikalischer Sicht ist ein Lucilar, das Bewusstsein, eine Form einer Energiewelle. Sie ist individuell, bei jedem Lebewesen besitzt sie eine andere Gleichung. So wie die DNA und der Fingerabdruck grundsätzlich verschieden sind. Das ist eine große Physik-Stunde für dich. Fälschlicherweise denken Menschen auf der Erde weiterhin, es gäbe vier Grundelemente. Das Gehirn würde unser Empfinden, unser ganzes Leben regieren. Und das obwohl es lediglich Materie ist und Bewusstsein existiert natürlich außerhalb von Raum und Zeit. Hast du gewusst, dass der Mensch, wenn er auf der Erde in eine Atomhülle geboren wird, einen erheblichen Überschuss an Nervenzellen im Gehirn besitzt? In der nachfolgenden Zeit werden diese aufgelöst und abgebaut. Und was steuert diesen Prozess? Was steuert alles? Lucilar, das unsterbliche Bewusstsein. Umgangssprachlich Seele genannt." Grave saß inzwischen mit leicht geöffnetem Mund und geweiteten Augen vor Livian Arkus. Nie zuvor hatte sie einen derartig verrückten, scheinbar psychisch schwerkranken Menschen getroffen. Der unheimliche Unsinn, den er redete, machte Grave ernsthaft Angst und sie gab sich Mühe, nichts falschen zu sagen und damit womöglich ihr Leben zu riskieren. „Könnten sie, naja, erklären, was das hier soll?", fragte sie vorsichtig. „Nun, da du scheinbar kein astrophysikalisches Interesse oder besondere Qualitäten in dem Fach hast...", begann Livian Arkus, während er sich vom Stuhl erhob, hinüber zu einem Regal schritt und die oberste Schublade öffnete. Er holte dunkelrotes Papppapier und einen Kugelschreiber heraus und schloss die Schublade wieder. Auf dem Schreibtisch fertigte Livian Arkus eine rasche Skizze an. Zwei große Kreise. Terra (Erde) und Xenna. In der Mitte zeichnete er einen dicken Strich, der die beiden Kreise trennte. „Erduniversum", erklärte Livian Arkus und notierte den Begriff über Terra. „Enna-Zentrum", fuhr er fort, das Wort über Xenna schreibend. „Der natürliche Zyklus des menschlichen Lebens. Parallel zueinander laufende Universen. Auf beiden existiert eine synchron wachsende, identische Atomhülle deines Körpers. Wie ein rechter und ein linker Handschuh. Nur der, der mit dem Lucilar geladen ist, kann aktiv handeln und empfinden. Nun, metaphorisch ausgedrückt, dein rechter Handschuh ist zerstört, nun bist du im linken. Für den gewöhnlichen Menschen endet die individuelle Reise mit diesem Handschuh, denn im natürlichen Zyklus geht es dann darum, das gelebte Leben im Licht zu vergessen, bis dein Lucilar in einen frischen, rechten Handschuh wandert." Livian Arkus Fingernägel trommelten auf den Schreibtisch und hinterließen ein klackendes Geräusch. Er legte ein behutsames Lächeln auf: „Du musst das nicht sofort verstehen. Nun, bedenke, dass es zwei Kontraste gibt, ist ein grundsätzliches Naturgesetz. Tag und Nacht. Männlich und weiblich. Heiß und kalt. So ist das auch bei Teilchen. Jedes Teilchen hat ein Partnerteilchen. Einleuchtend, nicht wahr?" Grave nickte und bangte, dass sie es schaffen würde, die aufkommenden Tränen noch länger zurückzuhalten. Nie zuvor sehnte sie sich stärker nach Henri, ihrer Mutter, ihrem Gärtner, ganz egal wem. Die Welle der Empörung, die durch jeden Muskel ihres Körpers strömte, hatte ein seltsames Gefühl der Taubheit zur Folge. „Nun, der Lucilar wandert zwischen Erduniversum und Enna-Zentrum hin und her. Hin und her." Livian Arkus zeichnete mit einer dynamischen Handbewegung mehrere Kreise auf das rote Papier. Ihr Leben lang hatte Grave Science-Fiction Filme und Bücher gehasst. Wahrscheinlich hatte sie da schon gespürt, dass ihr eines Tages so ein Mist widerfahren würde. „Du musst verstehen, dass dir wunderbares widerfahren ist. Du bist Bürger Xennas geworden. Ein Großteil der Menschen werden niemals erfahren, dass es Xenna gibt, denn wer nicht zu uns in den gasgeschützten Untergrund geholt wird, wird oben durch die Spannung im Atmosphärengas wieder geboren. Ein natürliches Verfahren. Nun, wir fangen jedoch Wissenschaftler ab, hin und wieder ein paar ausgeloste Enna für unsere kleine, feine Bevölkerung; und Arbeiter. Das war's. Du musst verstehen, dass es ein Privileg ist, dass du hier sein darfst. Dass du am 25. November 1981 geboren worden bist. Du wirst auf einem wunderschönen Gelände mit vielen Gleichgesinnten leben und ihr werdet jede Menge Spaß haben. Kinder und Jugendliche, alle am selben Tag im November 1981 geboren! Alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf der Erde gestorben! Und gemeinsam finden wir heraus, wer von euch unser Gesuchter ist." Livian Arkus schien Graves schwindende Aufmerksamkeit bemerkt zu haben, räumte das Papier weg und sagte: „Nun, abschließend etwas zu der Geschichte unserer Dynastie. Xenna war nicht immer bewohnt, denn über Millionen Jahre hinweg nutzten die Menschen ihren Körper hier für nichts anderes, als durch das natürliche Gas berauscht umherzulaufen, bis es sie zersetzte und ihre Seele zurück zur Erde holte." Grave schüttelte unterbrechend den Kopf und versuchte, das Wort zu erheben, doch Livian Arkus redete einfach weiter. „...Freiwillige Wiedergeburt aus dem Rauschzustand heraus. Wie Motten, die immer zum Licht laufen. Verächtlich. Zum Glück ist unsere Spezies auch mit wertvollen Köpfen gesegnet worden." Livian Arkus erhob sich von seinem Stuhl, kam hinüber zu Grave und legte seine langen, kühlen Finger auf ihre Schultern. „Mein Kollege Livian Zeran würde sagen: Du hast dem Tod den Mittelfinger gezeigt. Bei den meisten ist es andersrum", hauchte er direkt über ihrem Ohr, „die Menschen finden überall ihre Schlupflöcher. Sie haben alles eingenommen, sich an die Spitze aller Arten gekämpft. Unermüdliche Wissbegierde, egoistische Wesen, mit einer Eigenschaft, die sie allen Spezies voraus haben: Dem Verstand..." Livian Arkus lachte. „Grandiose Menschen haben dieses natürliche Verfahren begriffen. Die Vatorax, an der Spitze unserer Dynastie. Nun, du wirst es bald verstehen." Im selben Augenblick klopfte es an der Tür, Livian Arkus schien bereits damit gerechnet zu haben, hob aufmerksam seinen Zeigefinger und sah zu Grave: „Als du zu dir gekommen bist, hast du den Kalea von einer Lawine berichtet, in der womöglich auch deine Angehörigen zu Tode kamen. Du hast ihre Namen genannt." „Sind sie hier? An der Tür?", schoss es aus Grave, Livian Arkus verzog seine Lippen zu einem entzückten, unheimlichen Lächeln und kramte in seiner Hosentasche nach einem blauen Steinschlüssel. Grave folgte ihm zur Tür und schielte an seinem schmalen Kreuz vorbei, als er sie öffnete. Dann brach eine Welle der Erleichterung über ihr ein: „Henri!" Sie wollte aus dem Türrahmen stürzen, doch Livian Arkus hielt sie an der Schulter zurück: „Immer mit der Ruhe, wir bleiben erstmal hier drinnen!" Ein großer Mann und eine dicke Frau in der selben, cremeweißen Dienstkleidung wie der von Livian Arkus stützten Graves sichtlich benebelten Freund an den Armen. Henris Augen sahen noch berauschter aus als letzten Sommer, als Grave und er in Spanien mit der Fähre von Barcelona nach Savona gefahren waren und dabei zwei Hasch-Brownies von Henris Kumpel Nick gegessen hatten, die dieser ihnen trotz des Zoll-Risikos auf die gemeinsame Europareise in den Koffer geschmuggelt hatte. Henri konnte sich selber kaum auf den Beinen halten und schien dem Rauschzustand völlig ausgeliefert. „Die Kalea haben sie uns ins Nebenbüro gebracht. Der Junge ist leider nicht ihr Bruder, sondern nur ihr Freund. Der Mann ist sein Vater", bedauerte die dicke Frau, „wir haben noch nicht gesprochen. Der Vater ist bereits bei stabilem Bewusstsein." Livian Arkus nickte und die Frau schob den schwankenden Henri an Grave vorbei ins Büro. Grave kämpfte gegen den Impuls, die Fremde anzugreifen und ihr Henri zu entreißen. Livian Arkus bedankte sich bei seinen beiden Kollegen für die Bemühungen. „Gravity, Himmel sei Dank!", brach jetzt eine andere, vertraute Stimme in die Szene. Sie gehörte zu Richard, der von den Körpern der Fremden verdeckt worden war und sich an ihnen vorbei in das Büro drängte. Grave schloss erleichtert die Augen. Auch Richard und Henri hatte man weiße, sterile Kleidung angezogen. Die dicke Frau und der große Mann ließen Livian Arkus mit dem Trio alleine, gingen wieder aus dem Zimmer und schlossen die Tür. „Alles in Ordnung, Grave? Geht es dir gut?", prüfte Richard sofort und seine medizinisch geschulten Augen suchten Graves Körper nach oberflächlichen Verletzungen ab. Jetzt bemerkte Grave, dass sie den beiden wissenstechnisch bereits einen gigantischen Schritt voraus war. Henri war gerade erst am Erwachen und mit Richard schien in den letzten Minuten noch niemand gesprochen zu haben, weswegen er sich jetzt direkt an Livian Arkus wandte. Der war gerade dabei, den taumelnden Henri zum Sofa zu führen. „Ich bin ebenfalls Arzt", setzte Richard rasch an, „Professor Marsburg vom Sternville Medical Center! Welche Einrichtung ist das hier? Das ist mein Sohn Henri, er leidet unter starken Kopfschmerzen." Es hagelte ein paar nüchterne Informationen zu möglichen Diagnosen aus Richards Mund. Auch er schien noch davon auszugehen, dass sie in einem seltsam andersartigen Krankenhaus erwacht waren. Grave ließ sich sofort neben Henri auf das Sofa sinken und stützte seinen Kopf. Livian Arkus schenkte Richard zunächst keine Aufmerksamkeit. Stattdessen reichte er Grave die kleine Laserlampe, mit der er ihr beim Erwachen in die Augen geleuchtet hatte. „Halt das in seine Pupillen", forderte Arkus ruhig. Richard schüttelte den Kopf und machte einen Schritt auf Arkus zu, sichtlich irritiert von der fehlenden Beachtung, die man ihm trotz seines hohen Berufes schenkte: „Henri hat keine Gehirnerschütterung, das habe ich bereits geprüft, als wir nebenan aus der Narkose erwacht sind. Keine oberflächlichen Verletzungen. Ich möchte, dass Sie sofort ein MRT mit ihm machen. Wo sind wir hier? Wo sind meine anderen Söhne? Ist meine Frau auch hier?", ging die Fragerunde von Richard weiter. Jetzt standen sich die erwachsenen Männer gegenüber und Livian Arkus sah Henris Vater direkt in die Augen. Er lächelte. „Es ist das erste Mal, dass ich einen Wissenschaftler als lebenden Pfand serviert bekomme. Meistens sind die Angehörigen der Novemberkinder aus Drittweltländern, oder sie waren starke Alkoholiker, Proleten oder hysterische Hausfrauen. Das hier ist eine Premiere. Wir benötigen sie als emotionales Druckmittel, als Faustpfand. Wissen Sie, wir wollen eigentlich nur Gravity. Nun, wieso folgen Sie mir nicht ins Nebenzimmer? Dann kann ich Ihnen unter Erwachsenen erklären, wie rückständig die Wissenschaft auf der Erde ist. Wenn Sie zurückkehren, können Sie Gravity und ihren Sohn kindergerecht einweihen. Bis jetzt tut sich Gravity schwer, irgendetwas zu begreifen. Man merkt kaum, dass sie von Akademikern umgeben war." Grave kannte Richard Marsburg als einen Mann von souveräner Gelassenheit, dessen breites Wissen eine autoritäre Weisheit in sein Gesicht zeichnete. Nur zwei Mal hatte sie Henris Vater dabei beobachtet, wie ihm die Kontrolle entglitten war. Das erste Mal war gewesen, als sie drei Jahre zuvor in Albertas Wäldern zelteten und Besuch von einem Braunbären bekamen, der es offensichtlich auf die Tupperdosen mit Birgits selbstgemachtem Putensalat abgesehen hatte, die Valentin und Ben neben dem erloschenen Lagerfeuer hatten stehenlassen. Das zweite Mal war jetzt, als sie nach ihrem Tod vor Livian Arkus standen und dem Familienvater mitgeteilt wurde, dass die Freundin seines Sohnes von Wert für ein menschliches und dennoch totes Imperium sei und er künftig als lebender Pfand missbraucht werden würde. Jetzt war sie verschwunden, die souveräne Gelassenheit. Das Gesicht, das Richard Marsburg machte, war eine heftige Steigerung zu dem Bärenbesuch und nichts, worin Grave Halt fand. „Wo... sind wir hier?", kam es betont langsam aus seiner Kehle, und Grave hätte Richards Stimme kaum erkannt, so seltsam verzogen klang sie plötzlich. „Im Ministerium von Thovin. Kommen Sie jetzt? Gravity hat uns schon mit Anwälten gedroht. Das war grandios", berichtete Arkus Richard vergnügt, so als würde dieser ebenfalls über die lustige Anekdote lachen wollen. Bevor die beiden Männer aus der Tür verschwanden, warf Henris Vater Grave einen Blick über die Schulter zu. Es war ein Blick, mächtiger als tausend Worte, der ihre Emotionen vereinte: Maßlose Verwirrung, steigende Angst und die Hoffnung, jede Sekunde in einem echten Krankenhaus mit sterilen Vorhängen, unbequemen Betten, schlechtem Essen, Gestank nach Desinfektionsmittel und grässlichem Neonlicht aufzuwachen. Doch die Kulisse des Ministeriums blieb gleich. Erst jetzt bemerkte Grave, wie fremdartig das Büro doch wirkte. Wie sie den marmoriert-glasierten Steinen der Wandfassade keinen Namen zuordnen konnte, wie die dünnen Papierseiten des Buches aus seltsam dehnbaren Fasern bestanden. Die Tür, die aus einem Material wie Holz geschnitzt schien, doch beim zweiten Hinsehen offenbarte sich die Erkenntnis, dass es lackiertes Gestein war. Der Kronleuchter, dessen Licht seltsam unnatürlich wirkte, fast als rührte es durch eine chemische Reaktion und nicht etwa durch elektrische Strahlung. Jetzt klagte Henri lallend über seine Kopfschmerzen und das einzige, was Grave herausbekam, war eine bittere Lüge: „Gleich wird alles besser." „Wo sind wir denn? Die Lawine... Da war eine Lawine. Ich konnte mich nicht mehr bewegen", säuselte Henri, dessen Kopfbrummen langsam nachgelassen hatte. Er streckte den Rücken durch, warf Grave einen irritierten Blick zu und seine Brauen zogen sich zusammen. Die beiden waren noch immer alleine in Arkus Büro. „Ich...", stotterte Grave, doch die erklärenden Worte blieben zunächst aus. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Henri stand auf und sah sich in dem Büro um. „Sag mir jetzt, wo wir hier sind", zischte er und in seiner Stimme schwang ein Vorwurf, so als befürchtete er, Grave würde absichtlich Informationen zurückhalten. „Ich glaube... ich glaub'... wir sind vielleicht tot", stammelte Grave, aber weil diese Worte in ihrem Kopf so fremd klangen, fehlte der trauernde oder gar schockierte Tonfall. Sie war in einer lähmenden Gefühlswelt gefangen, in der die Realität nicht mehr den Verstand erreichte. Henri fuhr um. In seinen Augen glänzte Wut. „Hä?" Jetzt erhob sich auch Grave von der Garnitur und griff Henri am Handgelenk, doch er wich vor ihr zurück. „Ich meine es ernst, Henri! Hör zu, dieser Typ ist ein Geisteskranker, der mir ein Buch gezeigt hat, in dem so Zeug stand, wie... dass wir nicht wieder geboren werden oder sowas..." Jetzt verlor Henri die letzte Beherrschung, trat mit dem Fuß gegen den umgeflogenen Stuhl und ein lautes Rumpeln jagte durch den Raum. Er funkelte Grave an als stünde eine feindselige Fremde vor ihm und schüttelte den Kopf. „Was stimmt nicht mit dir? Hör sofort mit diesem Mist auf! Wurden wir entführt oder was?!" „Ich weiß' es doch nicht!", erhob Grave ebenfalls die Stimme. „Ist das alles in meinem Kopf? Träume ich? Eine Halluzination? Ich halluziniere...", stammelten sie dann beide abwechselnd. Grave zog Daumen und Zeigefinger immer wieder auf ihrer Stirn zusammen und knetete die Haut über ihren Augenbrauen - etwas, was sie schon als Kind intuitiv getan hatte, um sich selber zu beruhigen. In den letzten vier Jahren hatten Henri und Grave ihre Krisen gemeinsam durchgestanden, hatten die Nähe zueinander gesucht und Kraft in ihrer Verbindung gefunden. Doch jetzt entfernten sie sich immer weiter voneinander in jeweils andere Raumecken, beide in ihren eigenen Gedankenwelten gefangen und damit beschäftigt, sich einzureden, einen Albtraum zu erleben, in dem der jeweils andere nur ein herbeigedachter Statist war. Plötzlich hallte ein markerschütternder Schrei durch die Wände. Henris Vater brüllte im Nebenzimmer wie ein Tier im Todeskampf. Ein Laut, der sich für immer in Graves Gehirn festbeißen würde. Es war, als starb Richard ein zweites Mal.
DU LIEST GERADE
Xenna - Kinderheim der Toten
Fantasi"Wir töten nicht. Ihr kamt schon tot zu uns." Die junge Kanadierin Gravity Siverston und ihr Freund Henri Marsburg freuen sich Weihnachten 1999 auf harmonische Feiertage mit der Familie in den kanadischen Rocky Mountains. Kurz vor der Jahrtausendwe...