★Kapitel 5★

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Als ihr Vater im Bett war, schlich Yvaine sich nach unten und schrieb mit der weißen Kreide eine Nachricht an die schwarze Tafel.
„𝐹𝑎ℎ𝑟𝑒 𝑧𝑢 𝑀𝑎𝑟𝑎 𝑛𝑎𝑐ℎ 𝐿𝑜𝑛𝑑𝑜𝑛. 𝑆𝑖𝑒 𝑏𝑟𝑎𝑢𝑐ℎ𝑡 𝑗𝑒𝑡𝑧𝑡 𝑒𝑖𝑛𝑒 𝐹𝑟𝑒𝑢𝑛𝑑𝑖𝑛 (𝐷𝑎𝑣𝑒 ℎ𝑎𝑡 𝑆𝑐ℎ𝑙𝑢𝑠𝑠 𝑔𝑒𝑚𝑎𝑐ℎt). 𝐼𝑐ℎ 𝑚𝑒𝑙𝑑𝑒 𝑚𝑖𝑐ℎ, 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑖𝑐ℎ 𝑑𝑎 𝑏𝑖𝑛.
𝐾𝑢𝑠𝑠 𝑌𝑣𝑒."

Sie würde natürlich nicht zu Mara fahren. Nein, stattdessen ging sie mit einem fremden Mann, der behauptete ihr Beschützer zu sein.
Der gesunde Menschenverstand sagte ihr auch, dass das einfach eine zu krasse Geschichte war, doch Yvaine konnte nicht anders. Wenn sie in Vardens Gesicht sah, sah sie nur reine Ehrlichkeit. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte, also ging sie mit ihm.
Er hatte Antworten und sie würde ja zurück kommen. Sie wusste noch nicht wann, doch sie würde zurück kommen.

Als sie wieder nach oben kam, betrachtete Varden gerade die Fotos an den Wänden ihres Zimmers.
Darauf waren Landschaften, Menschen und auch Tiere zu sehen. Allesamt hatte sie selbst geschossen mit ihrer Canon EOS R5, die sie letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Als er Yvaine in der Tür stehen sah, drehte er sich zu ihr um.
«Bereit?», fragt er fast behutsam.
«Aber sowas von», entgegnete Yvaine sarkastisch.

Vardens Art zu reisen war anders, als die Leute es üblicherweise zu tun pflegten. Sie nahmen nicht den Bus, auch kein Auto oder Motorrad, obwohl Yvaine ihn für einen Motorradmenschen gehalten hätte.
Nein.
Als er aus Yvaines Fenster in der obersten Etage des Hauses geklettert war, dachte sie, er sei vollkommen übergeschnappt.
Sie würde garantiert nicht ihren Hals riskieren, um bei einer Nacht und Nebelaktion abzuhauen.

Lange stand sie vor dem offenen Fenster und starrte ihn wie ein trotziges Kind an. «Dir ist schon aufgefallen, dass wir auch eine Haustür haben?», hatte sie ihn spöttisch gefragt.
Erst als er ihr zum fünften Mal versichert hatte, dass ihr Nichts passieren wird, kletterte sie ihm nach.

Es war schwieriger als sie gedacht hatte über den hohen Fenstersims zu kommen, doch Varden reichte ihr eine Hand und half ihr auf das Vordach. Ein leichter Windzug ließ Yvaine frösteln, doch sie schob dieses Gefühl schnell beiseite, als sie den Anblick sah, der sich ihr bot.
Von dort oben konnte sie ihre ganze kleine Nachbarschaft überblicken. Sie sah das Haus, in dem Pete mit seiner Familie lebte. Sie sah das Haus von Mr. Brown, ihrem Nachbarn von nebenan. Sie sah den Spielplatz, wo am Nachmittag die Mütter saßen und ihre Kinder beim Spielen beobachteten.
Auch sie war früher dort mit ihrer Mutter, also mit ihrer Adoptivmutter hingegangen.

Sie sah den hohen Kirchturm der über allem aufragte. Stundenlang hätte sie dort stehen und ihre Heimat betrachten können. Sie wollte liebend gerne auf den Sonnenaufgang warten und das Farbenspiel sehen, in das er den Himmel und die Stadt getaucht hätte.
Doch eine Bewegung neben ihr zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Varden baute sich bedrohlich nah vor ihr auf und wies sie an die Augen zu schließen. Das war Yvaine nicht geheuer. Sie hatte da oben so schon ein mulmiges Gefühl im Magen.
«Was, wenn du mich vom Dach stößt?» Protestierend stemmte sie die Hände in die Hüften. Varden runzelte die Stirn und grinste vor sich hin.
«Ich schwöre, dass ich dich nicht vom Dach schmeißen werde.»
Er legte sich dabei die rechte Hand aufs Herz und hielt mit der anderen drei Finger in die Luft, wie es Pfadfinder tun, wenn sie einen Eid schwören.

Nach einem erneuten prüfenden Blick drehte sie sich schließlich um und zog dabei ihre Jacke noch fester um sich. Beim Anblick ihres verschlossenen Zimmerfenster bemerkte sie den Wind wieder. Die kalte Nachtbrise versetzte ihr einen Stich, bis Yvaine Gänsehaut am ganzen Körper bekam.
Neugierig ließ sie nocheinmal kurz ihren Kopf herum schnellen, doch Varden hatte es bemerkt und ermahnte sie bereits. «Nicht gucken», sagte er in einem tadelndem Ton.

Federn aus PechWo Geschichten leben. Entdecke jetzt