★Kapitel 8.2★

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Wieder auf ihrem Zimmer angekommen, tat Yvaine genau das, was die beiden Männer ihr gesagt hatten.
Sie lag in ihrem weichen Himmelbett mit den roten Vorhängen und starrte an die Decke, fand jedoch keinen Schlaf.

Sie hatte eine Ewigkeit lang versucht, sich mit geschlossenen Augen dahintreiben zu lassen, bis die Gedanken verstummten, die sich immer wieder in ihrem Kopf häuften, doch es klappte einfach nicht.
Sie drehte sich nach links und nach rechts und auf den Bauch, doch ihr Kopf fand einfach keine Ruhe.

Ich könnte jetzt vielleicht schon eine Meisterin der Luftmagie sein, stattdessen muss ich hier rumgammeln.
Und was ist mit Dad?
Bei diesem Gedanken setzte sie sich in dem großen Bett auf und ließ ihre Augen zu dem dunklen Holzschrank neben der Tür wandern, in dem sie ihre Sachen verstaut hatte. Ihr Telefon war noch immer in ihrem Rucksack.

Langsam schlug Yvaine die Bettdecke zurück und schauderte kurz, als ihre nackten Füße den kalten Boden berührten. Sie ging tippelnd zum Kleiderschrank, um nicht länger als nötig diesem plötzlichen Kälteschock ausgesetzt zu sein.

Eigentlich war es im Schloss immer recht warm, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie wirklich etwas zu erschöpft war.
Sie umschloss den elegant gebogenen Griff des Kleiderschranks, zog die Tür auf, die ihr auch schwerer vorkam, als am ersten Tag und sah auf ihren Rucksack hinunter, der noch immer genauso in der Ecke lag, wie sie ihn zurückgelassen hatte.
Yvaine kramte nach ihrem Telefon.

Sie war ein Typ Mensch, der nicht jeden Tag auf sein Smartphone starren musste und hielt ihr Leben auch sehr gut ohne aus. Doch jetzt war es gut, dass sie es dabei hatte. Bevor sie zurück zum Bett tappste, griff sie sich mit einem schnellen Blick auf die einsortierten Klamotten noch die bunten Wollsocken, die sie sofort anzog.

Mit Schwung rollte sie sich auf den Bauch und schaltete das Telefon ein.
Sie war bereit ihrem Vater zu schreiben, doch . . .
Was sag ich ihm nur?

Yvaines Vater glaubte noch immer, sie sei bei ihrer Freundin Mara in London. Was sollte sie ihm erzählen, wenn sie noch länger weg bleiben würde?
Die Wahrheit vielleicht?
Konnte er die Wahrheit verkraften? Andererseits hatte Yvaine noch so viele Fragen an ihn. Sie wollte wissen, warum er und ihre Mutter ihr nie gesagt hatten, dass sie adoptiert war.
Sie wollte wissen, warum sie es neunzehn Jahre lang verheimlicht haben. Immerhin hatte sie es selbst rausgefunden.
Vielleicht hätten sie es ihr niemals erzählt.

All diese Gedanken, all diese Fragen summten in ihrem Kopf umher und ließen ihr einfach keine Ruhe.
Was sollte sie ihm schreiben?

Ein monotones Vibrieren in ihrer Hand zerschnitt plötzlich die Stille und riss Yvaine aus ihrer Trance.
Der Display wurde hell und der Name «Dad» leuchtete in schwarzer Schrift auf.
Na großartig.
Wie immer perfektes Timing.

Yvaine haderte kurz mit sich.
Sie war doch noch gar nicht bereit, hatte sich noch keine Ausrede überlegt, doch sie konnte nicht warten, bis das Vibrieren aufgehört hatte.

«Yvaine Josephine Lewis. Wieso schleichst du dich Nachts einfach aus dem Haus, ohne Bescheid zu sagen?
Ich hab mir Sorgen gemacht.», schimpfte ihr Vater auf der anderen Seite der Leitung.

Ein Gefühl von Panik breitete sich in Yvaines Magen aus.
Schnell versuchte sie zu antworten, um es so natürlich wie möglich wirken zu lassen.
«Ach, Paps. Tut mir leid. Ich wollte Mara einfach ablenken. Die ist immer noch total fertig. Ich hatte dir doch eine Nachricht an der Tafel hinterlassen und als ich angekommen bin hab ich dir sofort geschrieben. Es war wirklich wichtig, dass ich gehe.»

Vielleicht würde sie Mara auch eines Tages erzählen, welch wichtige Rolle sie in dem ganzen Drama gespielt hatte.

«Ich weiß ja das du erwachsen bist und deine eigenen Entscheidungen treffen kannst, aber beim nächsten Mal sag mir bitte trotzdem einfach Bescheid.»
Seine Stimme war nun leiser.
Er hatte sich anscheinend wieder etwas beruhigt.

«Wie geht es Mara denn? Was habt ihr schon Schönes unternommen?»
Yvaine setzte sich wieder im Bett auf und atmete erleichtert aus.
Zum Glück ertrug es ihr Vater genau so wenig wie sie, wenn sie sich stritten und vermied es oft so gut es ging.
Nachdenklich ließ sie ihren Blick durch das Zimmer wandern und versuchte sich ein paar Aktivitäten auszudenken.

«Naja, wir haben erstmal einen ganzen Abend lang Liebesfilme gesehen und uns die Augen ausgeheult.»
Ihr Blick huschte zum Kleiderschrank. «Und shoppen waren wir auch. Wirklich - die beste Ablenkung bei Liebeskummer.»

Am anderen Ende der Leitung hörte sie ihren Vater kichern und dankte Gott dafür, dass er von solchen Sachen absolut nichts verstand.
«Sie kann sich wirklich glücklich schätzen eine Freundin wie dich zu haben, die sofort alles stehen und liegen lässt, um zu helfen.»

Eine Minute lang herrschte Stille zwischen den beiden und Yvaine wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte.
Sie hatte schon genug Schuldgefühle, weil sie ihren Vater anlog.
Vielleicht sollte ich ihn doch fragen.

Sie spielte mit dem Gedanken ihn zu konfrontieren. Yvaine wollte ihm sagen, wie verletzt sie war, als sie von einem Fremden erfuhr, dass alles was sie kannte eine Lüge gewesen war.
Doch dann würde er wahrscheinlich mehr fragen stellen, als sie.
Sie konnte ihn förmlich hören: Welcher Fremde? Woher weißt du das? . . .

Die Entscheidung wurde ihr zum Glück schneller abgenommen, als gedacht, was die Sache jedoch nicht leichter machte. «Yve, wann kommst du wieder nach Hause?»

Nach Hause.

Sie hob ihren Blick und starrte auf den dicken Wandteppich.
Sie sah in die Gesichter ihrer leiblichen Eltern.

Das Schloss hier, Avalon, hätte ihr Zuhause sein sollen.
Yvaine atmete schwer aus, als sie antwortete.
«Ich weiß noch nicht. Ich würde gerne noch etwas bei Mara bleiben und ihr ein wenig beistehen. Verstehst du?»
Wieder eine Lüge, die ihr so leicht von der Zunge glitt.

Ihr Vater machte einen nachdenklichen Ton und Yvaine konnte sich gut vorstellen, wie er sich gerade an seinem grauen Bart kratzte.
«Aber in zwei Tagen ist doch dein Geburtstag. Ich dachte, dass du wenigstens am Wochenende wieder zu Hause sein würdest.»
Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Bisher war kein Jahr vergangen, in dem sie nicht mit ihrem Vater ihren Geburtstag gefeiert hatte.

Yvaine stand nun auf und lief nachdenklich im Zimmer auf und ab.
«Ich weiß. Aber das wird ja nicht mein letzter Geburtstag sein, Paps. Und spätestens Weihnachten bin ich natürlich wieder bei dir.»
Sie versuchte diesen Scherz mit einem Lachen zu untermalen.
Wenn es wirklich ein Scherz war.
Wer wusste schon, wie lange ihre Ausbildung wohl dauern würde.

Yvaines Vater hatte nichts weiter dagegen zu sagen.
«Nun gut. Aber denk daran, dass dein Geschenk hier auf dich wartet.»
Yvaine erkannte an seinem Ton, dass es eine Ermahnung war und verdrehte automatisch die Augen, auch wenn ihr Vater es nicht sehen konnte.
«Keine Sorge, dass vergess ich schon nicht. Hab dich lieb, Dad.», sagte sie zum Abschied.
«Ich hab dich auch lieb, mein Engel.
Bis bald und schöne Grüße an Mara.»

Als Yvaine das Telefon sinken ließ, atmete sie tief ein und aus.
Sie stand nun vor dem hohen Fenster und sah auf die grünen Wiesen hinaus. Der Herbst hatte auch hier bereits seine Arme ausgestreckt und ließ die Halme im Wind hin und her wiegen.
Yvaine wusste noch nicht, was die Zukunft bringen würde. Sie sah in die Welt hinaus, die vor ihr lag und beobachtete die schöne Landschaft eine ganze Weile. Ihre Gedanken waren jedoch an einem anderen Ort.

Federn aus PechWo Geschichten leben. Entdecke jetzt