04 - Geschlossene Gesellschaft - Teil 1

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Der Ödipuskomplex.

Frustriert schob Maren Fuchs ein abgenutztes Lesezeichen in das psychologische Standardwerk und klappte es zu, dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und verkroch sich unter ihre seidige Kuscheldecke. Eigentlich hatte sie den neuesten Roman von Nele Neuhaus weiterlesen wollen, doch die Ereignisse der vergangenen Tage waren noch zu übermächtig, ließen ihr einfach keine Ruhe. Unter anderen Umständen hätte sie die erste freie Woche nach Monaten gefeiert, jetzt wollte sie sich nur noch verkrümeln und in der Geborgenheit ihrer vier Wände versinken.

Was genau hatte ihr diese Woche eigentlich an Erholung gebracht? Richtig, auf einer Skala von eins bis zehn: Null. Sie musste wahnsinnig gewesen sein, als die die Einladung ihrer Freundin Sophie zum vorgezogenen Skiurlaub im Schweizer Jura ausgeschlagen hatte. Schon lange hatte Sophie ihr den berühmten Affenkasten in ihrer Heimatstadt zeigen wollen, doch anstatt es sich in Aarau gemütlich zu machen, hatte sie ja unbedingt diesen Tanzworkshop in Kiel buchen müssen und sich damit ihren ganz persönlichen Ärger namens Miguel Andrés eingehandelt.

Zunächst hatte sich die Sache gut angelassen, und der junge Tanzlehrer beherrschte die Salsa wie kein zweiter, doch irgendwann war die lockere Stimmung umgeschlagen. Michael Andresen, wie er in Wirklichkeit hieß (das hatte sie durch Zufall herausgefunden, als es in der Weinstube ans Bezahlen der Rechnung gegangen war), hatte für ihren Geschmack eine anzügliche Bemerkung zu viel gemacht, ihr eine Kusshand nach der anderen zugeworfen und ihr schon nach kurzer Zeit deutlich zu verstehen gegeben, dass er an mehr als nur einem harmlos-belanglosen Flirt mit ihr interessiert war. Sie hatte ja grundsätzlich nichts gegen eine Abweichung von der Norm, aber ein Mann mit offensichtlichem Ödipuskomplex war selbst für sie zu viel. Falls sie vorher noch nicht geahnt hatte, dass auch Gefühle der Sympathie ein Verfallsdatum haben können, so wusste sie es spätestens zu diesem Zeitpunkt.

So lieblich sie sein Gesäusel zunächst auch gefunden hatte, spätestens hier war für sie Endstation gewesen. Man sollte berufliches und privates stets trennen, aber diesen gutgemeinten Ratschlag schien der zwanzig Jahre jüngere Mann nach Herzenslust zu ignorieren. Dabei wusste Andrés (pardon: Andresen), dass solche Eskapaden grundsätzlich nicht gern gesehen waren und er sich durch sein Verhalten der Gefahr aussetzte, seinen Job zu verlieren. In letzter Sekunde hatte sie die Reißleine gezogen und der Affäre einen Riegel vorgeschoben, bevor diese ihren Lauf nehmen konnte. Wahrscheinlich würde ihn die unerfüllte Sehnsucht für eine Weile schwermütig zurücklassen, doch sie war sich sicher, dass er in absehbarer Zeit eine andere finden würde, bei der er ekstatisch schnurren konnte.

Wie so oft, würde sie auch dieses unangenehme Erlebnis totschweigen. Nicht einmal Sophie würde sie diese Episode verraten. Die würde höchstens begeistert „O la la" flöten und mit den Augenbrauen wackeln. Schlimmer noch: Bei dem Gedanken, dass sie, Maren, regelrecht froh darüber gewesen war, zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausreisen zu können und sich auf die Rückkehr in ihren wenig kurzweiligen Alltag freute, hätte sie ihr höchstwahrscheinlich den Vogel gezeigt. Nein, ihre Lippen würden versiegelt bleiben.

Marens Augen verengten sich, als sie ihr auf Vibrationsalarm eingestelltes Smartphone auf der Anrichte hüpfen sah

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Marens Augen verengten sich, als sie ihr auf Vibrationsalarm eingestelltes Smartphone auf der Anrichte hüpfen sah. Wer konnte das bloß um diese Uhrzeit sein? Hoffentlich nicht ihr hartnäckiger Verehrer. Sie hätte sich nun wirklich nicht als ängstlich bezeichnet, aber die Vorstellung, er könnte trotz allem nicht lockerlassen, bereitete ihr ein nicht unbeträchtliches Kopfzerbrechen. Dennoch erhob sie sich steifbeinig und stolperte quer durchs Zimmer, um gerade noch das grüne Hörersymbol zu erwischen, bevor das Telefon zu rumoren aufhörte. Sie atmete durch, als ihr Blick auf die Nummer ihrer Dienststelle fiel, doch ihre Erleichterung währte nur kurz.

Die Wache, an einem Sonntagabend, und dann noch so spät? Wie ungewöhnlich, wobei der Ausdruck „ungewöhnlich" noch stark untertrieben war. In einem Kaff wie Bali passierte so gut wie nie etwas, weshalb Anrufe in der Freizeit eher selten vorkamen. Selten? Ach was! Wegen aufmüpfigen Halbwüchsigen, die hinter einer abgelegenen Scheune haschten, dem ein oder anderen Schüler, der seine Entschuldigungsschreiben für die Schule fälschte oder wenn Wodka an der Tankstelle geklaut wurde, hätten ihre Kollegen, geschweige denn ihr Vorgesetzter, sie doch niemals an ihrem letzten freien Abend angerufen.

Es war, wie sie befürchtet hatte. Nowitzki war am Apparat, um ihr mitzuteilen, dass es mit dem ruhigen Montag vorbei sein würde. Eine schwere Grippe hatte Feddersen von der Mordkommission außer Gefecht gesetzt, und sie musste seinen Dienst übernehmen. Na bravo! Anstatt glücklich über die unverhoffte Wendung zu Bett zu gehen, hatte sie das Gefühl, dass Nowitzki soeben den entspannten Ausklang ihres Urlaubs erfolgreich torpediert hatte. Ein verdorbener Abend hatte ihr zu ihrem Glück, nach dieser verkorksten Woche, gerade noch gefehlt.

So gerne sie auch im Sommer ausgedehnte Spaziergänge am Deich entlang unternahm oder mit dem Katamaran auf der Kieler Förde unterwegs war, so hasste sie den Winter mit seinen schlechten Straßen, auf denen sie ihr altersschwaches Fahrrad wie auf ro...

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So gerne sie auch im Sommer ausgedehnte Spaziergänge am Deich entlang unternahm oder mit dem Katamaran auf der Kieler Förde unterwegs war, so hasste sie den Winter mit seinen schlechten Straßen, auf denen sie ihr altersschwaches Fahrrad wie auf rohen Eiern balancieren musste. Der reinste Slalomparcours! Aber ihr blieb nichts anderes übrig, solange ihr Elektroauto zur Montage neuer Winterreifen in der Werkstatt war und sie sich standhaft weigerte, auf einen Mietwagen auszuweichen, den man nur mit Biodiesel betanken konnte.

Bei jedem Schlagloch schepperten die Schutzbleche, die Pedalen quietschten zum Erbarmen und der sperrige Transportkorb aus recycelbarem Material hinter ihr knarzte in einer Tour und würde sie noch irgendwann in den Wahnsinn treiben. Die Fahrt in der rauchgeschwängerten Morgenluft war auch so schon anstrengend genug. Da brauchte sie nicht auch noch dieses nervige Gequietsche. Sie hätte das blöde Teil in der Rumpelkammer lassen oder es gleich in den Geräteschuppen verbannen sollen. Offenbar taugte es nur noch, um Tulpenzwiebeln darin aufzubewahren.

Dementsprechend gelaunt (griesgrämig hätte es eher getroffen) und schweißgebadet erreichte sie kurz nach sieben Uhr die Wache, sehnsüchtig erwartet von den Kollegen, die es kaum erwarten konnten, die unabwendbare Herausforderung in Angriff zu nehmen.

Auf Eis gelegtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt