16) Informationsflut - 1

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„Dass du nicht so bist wie die breite Masse, haben wir mittlerweile ja erörtert", stieg Anne in die bevorstehende Informationsflut ein. Ihr Tonfall klang neutral und sicher. Als wäre das hier nicht ihre erste Gelegenheit, ein solches Gespräch einzuleiten – was sicherlich auch so war. Wenn ich eine Sache begriffen hatte, dann, dass Anne im Gegensatz zu mir schon sehr viele Leute kannte, die ... nun ja, anders waren.

Anders im Sinne von so wie ich.

Und offenbar auch so wie Louis.

Beim Gedanken an Louis keimte wieder dieses beißende Gefühl der Verletztheit in mir auf. Hatte er tatsächlich nur deshalb Kontakt zu mir gesucht, weil er mich überwachen musste? Hatte er mir unsere Freundschaft nur vorgespielt und scherte sich in Wirklichkeit nicht groß um mich, weil ich für ihn eben nur ein Job wie jeder andere gewesen war?

Noch nie hatte ein bloßer Gedanke so wehgetan.

„... noch bei uns?"

Ich schrak hoch. „Was?"

Anne musterte mich in einer Mischung aus Belustigung und Argwohn. „Bist du gedanklich noch anwesend?"

„Äh. Klar." Peinlich berührt setzte ich mich gerader hin und versuchte, Minervas Schnurren aus dem Mülleimer auszublenden. Diese Katze mit ihren klugen Augen (und den scharfen Krallen) machte mich nervös. „Tut mir leid."

„Kein Problem." Annes Lächeln war so beruhigend, dass ich mich am liebsten darin gesonnt hätte.

Doch dann fiel mir ein, was Harry über die Fähigkeiten seiner Mutter gesagt hatte. Sie war Empathin. Und Empathen konnten, wenn ich mir das richtig zusammenreimte, gezielt emotionale Vorgänge auffangen, auslösen oder unterdrücken, richtig? Demnach sollte ich mich wohl nicht zu sehr auf mein ungewöhnlich schnell gewonnenes Vertrauen verlassen. Ich musste weiterhin auf der Hut sein, durfte mich nicht einlullen lassen.

Geoff Payne neben ihr verharrte noch immer vollkommen unbewegt. Die Beine hielt er übereinandergeschlagen, seine gefalteten Hände ruhten darauf. Er erweckte nicht den Anschein, als wollte er in naher Zukunft etwas zum Gespräch beitragen.

Umso besser. Dieser Typ machte mich noch um Welten nervöser als die Katze.

Unwillkürlich fragte ich mich, welche Fähigkeiten wohl er besaß. Oder ob überhaupt. Vorhin hatte er davon gesprochen, mich nicht lesen zu können, das musste doch heißen, dass sein Kopf definitiv auch ein paar Updates besaß, oder?

„Verantwortlich für deine mentalen Fähigkeiten ist eine Mutation deiner DNA", holte Anne mich aus meinen Überlegungen. „Diese Mutation wird entweder vererbt oder sie tritt komplett neu auf. Woher auch immer sie in deinem Fall stammt, ist und bleibt Fakt: Du bist nicht krank. Du leidest keineswegs unter Schizophrenie, auch wenn man dir das dein ganzes Leben lang eingetrichtert hat. Sicherlich fragst du dich schon länger, wieso sich deine Symptome so von denen anderer Betroffenen unterscheiden. Wieso dein Körper so auf bestimmte Einflüsse reagiert, wie er es eben tut, warum dein Antipsychotikum so heftige Nebenwirkungen hat."

Meine Stirn lag in tiefen Falten, doch ich zwang mich dazu, zustimmend zu nicken. Recht hatte sie ja. Seit Jahren fragte ich mich, was bei mir schiefgegangen war.

„Nichts ist bei dir schiefgegangen, Niall."

Offenbar hatte ich es mal wieder nicht geschafft, meine Gedanken für mich zu behalten.

„Ich habe es dir schon heute Morgen gesagt: Du bist exakt so, wie es sein soll", fuhr sie fort. „Dass man dir die Diagnose Schizophrenie weisgemacht hat, liegt daran, dass man versucht, Menschen wie uns im Verborgenen zu halten. So zu tun, als würden wir nicht existieren. Das Medikament, das O-Nesciol, wurde speziell dafür entwickelt, die äußeren Ausprägungen der Mutation zu unterdrücken. Es bekämpft deinen Kopf, deine Natur. Daher stammen auch die heftigen Nebenwirkungen, von denen du sicherlich ein Liedchen singen kannst."

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt