Seit er denken kann, hört Niall Stimmen in seinem Kopf.
Er leidet unter Schizophrenie. Oder: Das ist zumindest, was man ihn glauben lässt.
Darüber, dass seine Symptomatik von der Durchschnittsnorm abweicht, macht er sich schon längst keine Gedanke...
Harry neben mir gab ein ersticktes Geräusch von sich.
„Cognizant?" Seine Stimme klang eine halbe Oktave höher als sonst. Mindestens.
„Allerdings." Der Mann musterte Harry so abschätzend, dass ich mich an Harrys Stelle unruhig zu winden begann. Dann hellte sich sein Gesicht schlagartig auf, gefolgt von einem entzückten Lachen. „Moment mal. Du bist Harry?"
Harry schien sprachlos zu sein, doch der Typ erwartete offenbar keine Reaktion von ihm. Stattdessen klatschte er in die Hände. „Faszinierend, wie die Zeit vergeht! Als ich dich das letzte Mal persönlich gesehen habe, warst du noch in der Grundschule."
Dann richtete er den Blick auf mich und wieder regte sich etwas in seiner Mimik.
„Und natürlich du." Langsam ließ er die Augen über mein Gesicht gleiten, ein nachdenkliches Lächeln auf den Lippen.
Ich sah es ihm an.
Ich sah ihm an, dass ihm etwas auf der Zunge lag. Dass es etwas gab, das er mir hier und jetzt mitteilen wollte, weil es ihm sonst keine Ruhe lassen würde.
Letztendlich nickte er mir jedoch nur zu. „Niall."
Harry neben mir atmete scharf aus. Es klang merkwürdig erleichtert. Fragend musterte ich ihn von der Seite her, doch er mied meinen Blick so angestrengt, dass es witzig hätte sein können, wäre es nicht so nicht-witzig. Wie um das Offensichtliche zu kaschieren, schlang er wieder den Arm um meine Schultern und stierte unseren Gesprächspartner finster an.
Dieser gab nur ein leises Lachen von sich. „Immer noch unzertrennlich, ihr beiden, wie ich sehe. Oder schon wieder."
„Aha." Harrys Arm um meine Schultern verkrampfte sich merkbar. „Wer sind Sie?"
„Ach, wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen." Der Mann fasste sich an die Stirn, knapp unter seinen sorgfältig zurückgegelten Haaren, ehe er mit ausgestreckter Hand vortrat. „Ken Gallagher, Leitung des Hauptstützpunkts der Cognizant."
Nun schien es endgültig vorbei zu sein mit Harrys mühsamer Ruhe. Ruckartig fuhr sein Kopf hoch und sein Arm verstärkte seinen Griff zu einer regelrechten Umklammerung.
„Sie lügen", verkündete er dann. „Ken Gallagher ist tot. Alle Gallaghers sind tot. Oder wie vom Erdboden verschluckt. Was auch immer."
Der Mann nickte lächelnd. „Letzteres, Harry. Wir ziehen es vor, wie vom Erdboden verschluckt zu sein, statt als lebende Zielscheibe von der OOA quer über den Globus gejagt zu werden."
Ich war noch immer damit beschäftigt, verschiedenste Punkte in meinem Gehirn zu verknüpfen. Demnach kostete es mich einige Sekunden, um eine Reaktion zu zeigen, die mehr als bloße Verwirrung beinhaltete.
„Gallagher?" Unsicher schielte ich zu Harry hinüber, dessen Kiefer noch immer aggressiv malmte. „Wie in ... Maura Gallagher?"
Der Blick des Gallagher-Typen war unergründlich, als er an mir haften blieb. Irgendetwas flackerte darin. Irgendetwas, das ich nicht zu ordnen konnte.
Wahrnehmen konnte ich von ihm natürlich auch nichts und ich legte es um Gottes Willen nicht darauf an, immerhin wollte ich nicht schon wieder sämtliche Blutgefäße in meinem Kopf zum Zerplatzen bringen. Mal ganz abgesehen davon, dass er einen solchen Spionageversuch garantiert nicht gutgeheißen hätte.
„Richtig." Die plötzliche Sanftheit in seinem Tonfall überraschte mich. „Maura Gallagher war meine Schwester. Ich bin mir nicht sicher, wie viel du weißt, Niall, aber sie war vor vielen Jahren die Anführerin der Rebellion. Der Cognizant. Wir sind das Überbleibsel davon. Diejenigen, die sich dazu entschlossen haben, aktiv gegen die Unmenschlichkeit der OOA vorzugehen, statt sich ihren Strukturen zu fügen und sich dem Leid hinzugeben."
Harry neben mir schnaubte laut. „Aktiv vorgehen, alles klar, Mann. Eure aktiven Methoden kennen wir. Dann gehen all die ungerechtfertigten Anschläge auf diverse Leute und Einrichtungen wohl auf eure Kappe, was?"
„Ungerechtfertigt?" Im Gegensatz zu der Harrys war Gallaghers Stimme vollkommen ruhig. Er schien daran gewöhnt zu sein, solche Diskussionen zu führen. „Man mag uns viel vorwerfen können, Harry, aber dass auch nur eine einzige unserer Aktionen gegen die OOA jemals ungerechtfertigt gewesen wäre, garantiert nicht. Zudem bin ich mir sehr sicher, dass du nicht ansatzweise darüber informiert bist, mit – und an – welchen Methoden die OOA inzwischen arbeitet."
„Es macht keinen Sinn, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten", gab Harry wie aus der Pistole geschossen zurück.
Ken Gallaghers Augenbrauen zuckten. „Deine gute Mum hat dich gut abgerichtet, hm?"
Harrys Blutdruck dürfte inzwischen ein gesundheitlich unbedenkliches Level überstiegen haben, und ich griff unwillkürlich nach seiner Hand, die über meiner Schulter lag, in der Hoffnung, ihn beruhigen zu können.
„Sie können sich...", setzte er in mörderischem Tonfall an, doch Ken winkte nur seufzend ab.
„Komm schon, lassen wir das doch einfach. Diese Streiterei ist anstrengend und nützt niemandem etwas." Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans, bevor er einen Schritt zurücktrat und uns ein einladendes Lächeln schenkte. „Kommt rein."
Harry blieb stocksteif neben mir stehen, doch ich nötigte ihn zur Bewegung. Was blieb uns auch anderes übrig, als der Einladung – dem Befehl – Folge zu leisten? Es war ja nicht so, als hätten wir hier irgendeine Wahl.
Als wir uns an Ken Gallagher vorbeischoben, suchte dieser meinen Blick, und im nächsten Moment hatte er mich schon sanft am Arm berührt und ließ die Hand für wenige Augenblicke dort verweilen, als würden wir einander kennen.
„Es ist gut, dich zu sehen." Wieder legte er diese Pause ein, die einen seltsam bedeutungsvollen Beigeschmack hatte. „Niall."
Was hatten nur alle mit meinem Namen? War der wirklich so merkwürdig?
Unsicher trat ich von einem Bein aufs andere.. „Ob die Freude ganz meinerseits ist, weiß ich noch nicht, tut mir leid."
Gallaghers Mundwinkel zuckten im Anflug eines Lächelns. „Immer noch ganz schön schlagfertig. Umso besser."
Ich runzelte die Stirn. „Okay."
Er ließ die Hand von meinem Arm gleiten und wandte sich ab. „Jetzt aber mal los. Ich bin mir sicher, ihr habt viele Fragen."
Harrys Grunzen unterstrich diese Aussage ganz wunderbar.
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Ein sehr kurzer Teil, ich weiß. Eigentlich wäre die Story als Trilogie oder zumindest Dilogie angesetzt gewesen, und das hier wäre das erste Kapitel des zweiten Bands😅 Auf Wattpad machen verschiedene Bände aber irgendwie keinen Sinn, also hab ich es gelassen. Das Cover für Band 2 hau ich unten mal rein, damit ich es nicht völlig umsonst erstellt habe🙂
Konnte Ken Gallagher bei euch Sympathiepunkte sammeln oder eher nicht?👀
Liebe Grüße und schönes Wochenende!
Andi❤
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