Prolog

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Seit dem die Menschen von der Existenz der Irrlichter wissen, wird gesagt: Siehst du im Wald ein kleines Licht, so folge ihm nicht.
Die meisten Kinder in Elliss kennen diesen Spruch und befolgen ihn. Es gibt viele Gruselgeschichten über Irrlichter und andere Waldkreaturen. Über wilde Bären und Wölfe. Über rießige Baumwesen und winzige Moosgeschöpfe. Es gibt Horrorgschichten über düstere Wälder und dunkle Höhlen. Aber waum? Warum wird den Kindern von Elliss Angst eingejagt? Wieso sollen sie sich vor den großen Waldgebieten fürchten?
Das Reich, welches den Namen Elliss trägt, führt seit Jahrhunderten einen Krieg. Einen Krieg mit den Wäldern. Es mag für manche Ohren lächerlich klingen, doch für die meisten Ellierer ist der Wald und dessen Bewohner ein Schrecken.
Dieser Krieg, sein Beginn und seine Folgen sind für diese Geschichte kaum von Belang. Wichtig ist, dass die Wälder in Elliss gefürchtet sind und das zu Recht.

"Alles begann mit einem verregneten Nachmittag..." Murmelte Tarjo und kritzelte die Worte auf ein dünnes Blattpapier. Der junge Mann saß auf dem Kutschbock und freute sich auf die nächsten Stunden. Er mochte die langen Fahrten und die ruhigen Tage, die er damit verbrachte Waren von einem Ort an den anderen zu schaffen. Er war dafür zuständig, dass keine Komplikationen auftraten. Und wenn doch, dann sollte er sie lösen. Unter Komplikationen stellte sich der Besitzer der Waren, ein wohlhabender Kaufmann, Räuber und Diebe vor. Tarjo war nicht der einzige Söldner, der angeheuert wurde um die Kutsche im Notfall zu verteidigen. Es gab noch Meth und Kobi. Beide waren seine Freunde und sie kannten sich eine gefühlte Ewigkeit. Zu dritt leisteten sie meist die beste Arbeit. Ein Überfall war keine Seltenheit, nicht auf den abgelegen Routen, die die Waren am schnellsten von A nach B schaffen konnten. Meth, Kobi und Tarjo waren ein eingespieltes Trio und mit dem Schwert waren sie wohlgeübt. Eine einfache Räuberbande war keine große Herausforderung.
Meth und Kobi Ritten neben der Kutsche her. Tarjo hingegen hatte sich zum Kutscher gesellt. Dort saß er lieber, er brauchte eine Auszeit. Der Rücken seiner schwarzen Stute war nach sieben Stunden ritt nicht mehr so angenehm. Der Kutscher, Lomos, ein alter faltiger Mann, war zwar keine besonders nette Gesellschaft, aber Tarjo mochte ihn trotzdem. er war auf seine schräge Art und Weise ein liebenswürdiger Mensch.

"Was meinen Sie, Lomos? Das ist doch ein schöner Anfang für eine Geschichte. Nicht wahr? 'Alles begann mit einem verregneten Nachmittag...'." Tarjo sah nach links. Der Kutscher hingegen blickte weiter in die Ferne. Er war wiedermal schlecht gelaunt, keine Seltenheit.

"Wenn du Geschichtenschreiber werden willst, dann musst du dir mehr einfallen lassen. Aber du bist ja ein Raufbold, da kann man dir deine Einfallslosigkeit verzeihen." Lomos schnaubte verächtlich. Doch der Söldner ließ sich nicht von ihm beirren und kritzelte weiter auf sein Blattpapier.

"Sie sind heute aber wieder gut gelaunt." Meinte Tarjo mit einem leichten lächeln. "Was ist ihnen denn über die Leber gelaufen, mein Herr."

Lomos Gesicht verfinsterte sich:"Es liegt an der Gegend... wir kommen immer näher... Ich hasse diese Gegend. Es ist jedes Mal dasselbe, jedesmal..."
Tarjo wusste wovon Lomos sprach. Er war diese Strecke schon 3 Mal entlanggekommen und jedesmal hatte er es gespürt. Es war ein unangenehmes Gefühl, so als würde man langsam, ganz langsam erdrückt werden. Die Luft wurde schwerer und es breitete sich eine grausige Kälte aus.
Der junge Söldner fragte trotzdem nach:" Was genau meinen Sie? Warum hassen Sie diese Gegend, Herr Lomos?"
Der alte Kutscher hob die Peitsche und ließ sie durch die Luft sausen. Die Pferde beschleunigten.
"Ich bin schon seit Jahren in den Diensten von Xamor Tro..." Xamor Tro war der Kaufmann, dem die Kutsche und die Waren gehörten. "...ich hab viele schlimme Dinge auf meinen Fahrten gesehen... und die meisten sind hier passiert. Siehst du das dahinten?" Er streckte einen krummen Finger aus und deutete auf das weitläufige Waldgebiet vor ihnen.
Tarjo nickte. "Wir sind dort doch schon vor einem Monat durchgekommen. Es ist nichts passiert, du macht dir umsonst sorgen, alter Mann." er versuchte vergeblich den Alten zu beruhigen.
Lomos schnaubte erneut:" Ich mag zwar alt sein, aber ich kenne diese Gegend besser als du. Ich spüre es, der Wald hat geschlafen. Ja, das hat er. Aber jetzt ist er aufgewacht. Du bist ein Dummkopf, wenn du das nicht spürst... Auf uns wartet Ärger..." Er ließ die Peitsche ein weiteres Mal sausen.
Tarjo zweifelte nicht am Gefühl seines Gefährten. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, dann hatte er sein Schwert. Deshalb machte er sich kaum Gedanken um das was vor ihm lag.
Er wusste, dass die Wälder in Elliss gefährlich waren. Er hatte gegen bizarre Kreaturen gekämpft, doch bis jetzt war jeder Räuber oder Dieb schlimmer gewesen als einer dieser lebendigen Haselnusszweige.

Es dauerte eine Weile bis sie den Waldrand erreichten. Die Räder der Kutsche ratterten und die Hufe der Pferde klapperten monoton.
Meth und Kobi machten die Nachhut und unterhielten sich die meiste Zeit über Bier, Kartenspiele und Frauen. Tarjo versuchte sich weiter am Geschichtenschreiben. Lomos hingegen rutschte nervös auf dem Kutschbock umher und spornte sie Pferde an. Er wollte so schnell wie möglich voran kommen. Er wollte den Wald verlassen.
Die Wälder in Elliss trugen keine Namen. Man orientierte sich nur Mithilfe der Straßen. Die meisten Waldgebiete waren kaum erkundet. Und das würde noch lange so bleiben.
Nach einer Wegstunde begann es zu regnen. Es war, als ob siche ein ganzer Ozean über ihnen ergießen würde. Jetzt war es nicht nur kalt, sondern auch nass.
Tarjo wickelte den Ledermantel fester umsich. Wütend nahm er das durchnässte Blattpapier von seiem Schoß. Seine ganze Arbeit war dahin, es existierten nur noch verschwommene Buchstaben. Er wollte sich am Schreiben probieren, er hatte bei den Warentransporten nie was zutun, also versuchte er sich abzulenken. Doch nun reichte es ihm wieder.
Mit einer Handbewegung zerknüllte er das tropfende Blatt und warf es zwischen die Bäume.
Tarjo war ein großer gutgebauter Mann. Er kam aus einer einfachen Familie. Sein Vater war Schmied gewesen und seine Mutter war früh verstorben. Er hatte 2 Jüngere Bruder, doch er kannte sie kaum.
Mit 15 hatte er seinen Vater verlassen und war Soldat geworden. Nach zehn Jahren Dienst war er Meth begegnet. Kurz darauf kam Kobi dazu. So kam es, dass das Trio Schutzgeleit für alles mögliche anbot. Sie verdienten nicht gut, aber gut genug. So vergingen die nächsten drei Jahre. Schöne Jahre mit vielen Frauen und viel Bier.
"Wie viele Wegstunden liegen noch vor uns?" fragte er Lomos.
"Vielleicht neun durch den Wald und danach nochmal zwölf." lautete die Antwort.
Tarjo seufzte und schütelte das Wasser aus seinem schwarzen Haar. Der Regen wurde stärker und die Pferde taten sich schwer voran zu kommen. Der Boden weichte auf und schlammpfützen bildeten sich. Es wurde unangenehm am Kutschbock. Plötzlich erzitterte die Kutsche und keine Sekunde später ertönte ein Krachen.
"Haaaalt!" schrie Meth von hinten. Doch es war längst zu spät. Ein dynamischer Ruck durchfuhr die Kutsche und mit einem Mal stand sie still.
Lomos wäre beinahe herunter gefallen, hätte Tarjo den Alten nicht am Kragen gepackt.
"Verdammte Scheiße!" brüllte Lomos. "Was sind das nur für schreckliche Straßen? Warum muss das immer mir passieren? Was für eine verdammte Scheiße!" Er stieß die derbsten Flüche aus und hüpfte vom Wagen. Meth kam angeritten. Er stieg von seinem Schimmel und sah sehr besorgt aus.
"Das linke Rad ist fest. Es dreht auf der Stelle." Sagte der blonde Söldner. Er seufzte schwer und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht.
"Fuck..." Auch Tarjo sprang vom Wagen. Beide stampften zum festen Wargenrad.
Und es kam noch schlimmer.
"Die Radachse ist gebrochen." rief Kobi. Lomos, der neben Kobi stand, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Der Alte schien einen Nervenzusammenbruch zu haben.
"Das hat und gerade noch gefehlt. Jetzt sitzen wir hier fest. Dieses verdamte Loch, ich hab es nicht gesehen. Diese verdammten Waldwege! Dieses verdammte Wetter. Diese verdammte Gegend! Ich hasse sie!" Schrie er und stampfte im Matsch.
Tarjo sah zu Meth und dann zu Kobi. Was sollten sie machen? Sie waren Söldner. Sie konnten die Kutsche nicht reparieren. Sie müssten zu Fuß weiter und mit einem neuen Wagen die Waren holen. Das würde anstrengend werden. Sehr anstrengend.

Der Wald wurde von seinen Bewohnern Irrlichterwald genannt. Am Tage war es dunkel im Labyrinth der Bäume. Das dicke Blätterdach ließ kaum Licht hindurch und der Nebel verschleierte einem meist die Sicht.
Bei Nacht war alles ganz anders. Die blauen Lichter tanzten einen wilden Tanz und die Grillen sangen ihre rythmischen Lieder. Bei Nacht erwachte der Wald. Seine Bewohner flogen mit langen leisen Schritten über das weiche Moos und beschützen die Bäume und Tiere vor Fremden. Wer nicht willkommen war, der würde nicht lange lebend dort verweilen.Und Menschen waren es nicht. Sie waren nicht willkommen.

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