Der Wald bei Nacht

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"Hier können wir für die Nacht bleiben." sagte er.
Marielle sah sich um und nickte. Sie waren den restlichen Tag gelaufen. Marielle hatte gesagt, dass Meth warscheinlich am See war. Schwarzwasser nannte sie diesen. Weshalb sie das dachte, das verriet sie ihm nicht. Tarjo glaubte, es habe etwas mit den Irrlichtern zu tun. Denn jedesmal, wenn ihnen eines über den Weg lief, sprach Marielle mit ihm. Er wusste nicht, wie sie die kleinen Lichter verstehen konnte. Doch sie tat es. Irgendwie konnte sie das blinken und zappeln entziffern. Auch Selpi reißte mit ihnen. Das winzige Geschöpf saß am liebten in Tams Sattel und beoachtete neugierig Tarjo. Irgendwie mochte er das Licht, es hatte etwas liebenswürdiges an sich.
"Wie lange brauchen wir bis zum Schwarzwasser?" er nahm Tam die Satteltaschen ab und richtete sich ein Nachtlager her. Marielle saß im Schneidersitz am Boden und beobachtete ihn dabei. Das weiße Kleid umschmeichelte ihren Körper.
"Noch einen Tag. Einen halben, wenn wir schnell sind."
"Dann müssen wir wohl schnell sein." er lächelte. "Warst du schon oft dort? Beim See meine ich?"
"Ja. Es ist ein schönes Gewässer. Er ist weitläufig und tief. Ich habe dort oft gebadet, besonders als ich noch klein war." sie sah in die ferne. "Ich war schon länger nicht mehr dort."
"Marielle..., hast du Eltern? Haben Nymphen Familie? Mütter, Vätter, Geschwister?"
"Ich habe nur Schwestern." sagte sie kurz.
"Aber wie... wie könnt ihr euch... vermehren." Ihm war es unangenehm soetwas zu fragen, doch die Neugier war groß. 
"Wie vermehrt ihr Menschen euch?" fragte sie aus ehrlichem Interesse und weil sie nichts von ihrem Volk Preis geben wollte. "Ehm also..." sie war seiner Frage mit einer Gegenfrage ausgewichen. Ein unfairer Schachzug.
"Das ist schwer zu erklären." war das einzige was ihm einfiel. Mairelle nickte. "Ja, das ist es auch bei meinem Volk." Die Nacht brach schnell herein und es wurde kalt. Das dichte Blätterdach der Bäume versperrte dem weißen Mondlicht den Weg. Tarjo wollte ein Feuer machen, doch Maielle hatte ihm davon abgeraten. Ein Feuer würde nur ungewollte Besucher anlocken. Kein Feuer also. Tarjo musste sich in seine Decke kuscheln um nicht zu frieren. "Ist dir nicht kalt?"
Arie schüttelte den Kopf. "Nein." Es war dunkel und still. Nur der kühle Nachtwind strich über ihre Gesichter. Hin und wieder schrie eine Eule. Und ab und zu raschelte es im Gebüsch. Sie saßen sich gegenüber. Er war zwar müde, aber er durfte nicht schlafen. Das Risiko, dass sie in der Nacht weglaufen würde war zu hoch. Er war fest davon überzeut, dass Marielle jede Chance zur Flucht ergreifen würde. Er hatte ihr Gesicht gesehen, als er ihr das weiße Kleid gegeben hatte. Sie war den Tränen nahe gewesen. Es tat ihm Leid, doch er brauchte sie. Sie durfte nicht zurück in ihr altes Leben. Zuerst musste sie ihm helfen.
"Marielle?" fragte er und ihre grauen Augen richtete sich auf ihn. Ein Hauch Panik flog über ihre Züge.
"Ja?"
"Wenn ich mich jetzt schlafen lege, dann wirst du morgen verschwunden sein. Nicht wahr?" Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
"Was?" sie hob die Augenbrauen.
"Du wirst weglaufen, oder?" Er erwartete keine Antwort, denn er wusste, dass sie 'Ja' lautete.
"Das was ich vorhabe wird dir nicht gefallen. Aber ich kann nicht zulassen, dass du wegläufst. Verstehst du?"
Er hob die Hand und fuhr seinem Kiefer entlang.
"Was hast du denn vor? Ich... Ich verspreche dir, ich werde nicht weglaufen..." Ihre Augen weiteten sich und sie bekam Angst. Sie sprang auf, doch das tat auch Tarjo.
"Was hast du vor?" rief sie und ging einen Schritt zurück. "Du hast gesagt, du wirst mir nicht wehtun." ihre Stimme zitterte.
"Ich werde dir nicht wehtun... wenn du dich nicht wehrst." Er ging zielstrebig auf sie zu. Sie wich zurück. Er packte sie am Handgelenk und zog sie zu sich. "Nein! Bitte..."
Er nahm sich auch noch ihre andere Hand und hielt beide zusammen. Mit einem dünnen Seil, welches er aus seinem Mantel zu zaubern schien, band er ihre Handgelenke zusammen. Das Ende des Seils befestigte er mit einer Schlaufe an seiner eigenen.
"Tut mir leid." Meinte er ernsthaft. Sie sah ihn schockiert an und riss an dem Strick.
"Mach das weg... Lass mich... Lass mich los..." rief sie verzweifelt, als er sie versuchte zu beruhigen.
"Hör auf, es ist nur für die Nacht. Morgen in der Früh nehme ich es dir ab."
"Du Bastard..."rief sie und zerrte erneut. Er musste lächeln.
"Wer hat dir denn solche Worte bei gebracht."
Sie wurde wütend. "Ich hasse dich. Du bist ein furchtbarer Mensch. Du bist grausam. Du bist..." Sie war so wütend, dass sie kaum wusste was sie sagen sollte.
"Ich will schlafen, es war ein langer Tag. Beruhige dich, lege dich zu mir und du wirst sehen, es ist alles gut."Sie versuchte ihn zu schlagen, doch er hatte die Kontrolle über ihre Hände und zog Marielle ohne viel Anstrengung zu sich. Er hob sie hoch. Sie schrie mit allen Leibeskräften und schlug mit den Beinen aus.
Er ging zu seinem Lagerplatz, legte sich hin und platzierte die Nymphe neben sich. Sie wollte aufspringen, doch er ließ es nicht zu. Sie war unglaublich wütend, doch sie sagte nichts. Sie wollte nicht mehr schreien und zappeln. Es hatte sowieso keinen Sinn. Sie musste sich seinem Willen beugen. Sie blieb ruhig liegen und litt im Stillen. Er drehte sich in eine angenehme Schlafposition, hielt das Seil straff und fest umklammert. Sie lag mit dem Rücken zu ihm. Arie atmete schwer und zitterte. Die Wut und Angst staute sich in ihrem Inneren.
"Es tut mir wirklich leid, aber es muss sein. Das Risiko..." Der junge Mann sprach nicht weiter. Es herrschte eine Zeit lang Stille, dann bewegte sich ihr zierlicher Körper und sie drehte sich auf den Rücken. Tarjo beobachtete sie. Ihre Augen richteten sich in Richtung Blätterdach. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an bis sie endlich sprach. 
"Was bedeutet 'Bastard'?" sie klang gefasst und ehrlich interessiert.
"Bastard beschreibt ein Kind, welches unehelich geboren wurde." Er war erleichtert, dass sie sich mit ihrer Situation abgefunden hatte.
"Wieso ist es ein böses Wort?"
"Weil unehelich geborene Kinder... Also es ist wichtig erst in der Ehe ein Kind zu bekommen." Ein schwacher Erklärungsversuch.
"Warum?" Die Frage war zu erwarten gewesen.
"Das ist nun einmal bei den Menschen so. Es gibt noch mehr Beleidigungen, die mit diesem Thema zu tun haben. Es gibt bestimmte Regeln, die muss man einhalten... Wer hat dir dieses Wort beigebracht?" Sie seufzte. "Ich habe es eine Frau sagen hören. Ich habe sie beobachtete, wie sie durch den Wald geirrt ist. Sie hat noch mehr unbekannte Dinge gesagt, doch ich habe mir nur das eine gemerkt."
"Was ist aus ihr geworden?"
"Tot." Sagte Marielle schlicht. Und wieder wurde es still. Tarjo dachte über das Schicksal der armen verirrten Frau nach. Wahrscheinlich war sie auf ähnliche Art und Weise verstorben, wie Kobi und Lomos. Hoffentlich war es ein nicht allzu schmerzhafter Tod. Verschlungen von Ranken und Dornen. Lomos, der alte Kutscher, er hatte es gewusst. Er hatte gewusst, dass etwas schlimmes passieren würde. Er hatte es ganz genau gewusst. Was für eine arme alte Seele.
Irgendwann vernahm er, wie Marielle gleichmäßig atmete. Die Dryade war eingeschlafen. Sie sah friedlich aus. Die schönen Augen waren geschlossen und hin und wieder zuckten ihre langen Wimpern. Anscheinend träumte sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Sie hatte so perfekt Brüste. Tarjo konnte seinen Blick nicht abwenden. Er hatte sie schon gespürt. Sie hatten auf seinem Arm gelegen. Er hatte sogar ihren Hintern gespürt. Ihre wohlgeformten Rundungen. Er hatte ihren Duft eingeatmet. Sie roch so... anders. Sie roch so sehr nach der Natur. Nach Tau, Moos und Kiefernholz. Ein verzaubernder Geruch. Er konnte es riechen, nur ganz leicht. Er lag nicht nah genug neben ihr. Er starrte sie noch lange an, bevor er einschlief. Er träumte von ihr. Von ihrem Körper in seinen Händen.

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