Das kleine blaue Licht

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Ein übler Gestank drang an seine Nase. Es roch nach Blut, totem Fleisch und Verwesung.
Bilder fluteten sein Bewusstsein. Wilder Regen. Schreiende Pferde. Ein riesiger Baum. Eine umgestürzte Kutsche. Eine blitzende Klinge.
Tarjo schlug die Augen auf. Die Sonne stand tief. Es wurde Nacht. Seine Kleidung war durchnässt. Er fror am ganzen Körper und jeder Muskel tat ihm weh. Instinktiv griff er an seine Seite und atmete auf, als er das Schwert spürte. Er brauchte die Waffe um sich sicher zu fühlen.
Tarjo war am Wegesrand aufgewacht. Er sprang auf die Beine und zuckte zusammen.
Alles schmerzte. Die Finger brannten und der Rücken war so steif,  als hätte er 20 Jahre im Steinbruch gearbeitet.
Er schob den Schmerz beiseite und sah sich um.
"Was zur Hölle..." er ging zur Kutsche. Sie lag auf der Seite. Zersplittertes Holz war überall verteilt. Ein Baumstamm hatte den Wagen zerschmettert. Die Waren, edle Seidenlaken, lagen im Schlamm. Sie waren mit braunen und roten Flecken übersäät. Ein bizarrer Anblick.
Tarjo entdeckte die angespannten Pferde. Ihre schweren Körper lagen leblos im eigenen Blut. Die Tiere waren von den Ästen des Baumes aufgeschlitzt und zerissen worden. Das leise Summen der Fliegen und der Verwesungsgestankt erfüllte die Luft.
"Arme Geschöpfe..." murmelte er. Glücklicherweise konnte er weder seine schwarze Stute, noch Meth und Kobis Tiere erblickten. Hoffentlich war seinen Gefährten nichts zugestoßen.
Tarjo versuchte sich zu erinnern.
Was war geschehen?
Die Radachse der Kutsche war gebrochen. Sie hatten überlegt, was sie tun sollten und im nächsten Augenblick ertönte ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Der Regen hatte Tarjos Sicht verschleiert, doch er konnte erkennen, wie sich etwas riesiges zwischen den Bäumen bewegte. Keine Sekunde später hörte man das knacken von Holz und ein großer Fichten Stamm schmetterte auf die Kutsche nieder. Die darauffolgenden Kämpfe waren verschwommen in seinem Gedächtnis zurückgeblieben. Auch wusste er nicht mehr wie das ganze geendet hatte. Er sah keine Spuren, die auf Verletzte oder Leichen deuteten. Aber es gab auch kein Anzeichen von Lebenden. Was ihn zurgleich erleichterte und beunruhigte. 
Gegen wen oder was er gekämpft hatte, konnte er nicht sagen. Das einzige was er wusste war, dass es rießig gewesen war.
Tarjo beschloss ersteinmal nach Spuren zu suchen, die ihn zu Meth, Kobi und Lomos bringen würden. Er ging um die zerstörte Kutsche. Der Regen und die Dämmerung machten es schier unmöglich irgendwas brauchbares zu erkennen. Es wurde immer kälter und dunkler.
Der junge Mann fuhr sein markantes Kinn entlang, eine Geste die vollste Konzentration wiederspiegelte.
Was sollte er nun tun? Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Straße folgen und irgendwo Hilfe holen. Oder Zweitens: In den Wald gehen und direkt nach seinen Gefährten suchen. Das eine war schlau, das andere dumm. Doch vielleicht benötigten Meth, Kobi und Lomos dringend Hilfe, villeicht hatten sie kaum noch Zeit....

Ein paar 100 Meter entfernt huschte eine kleine Gestalt durchs Unterholz. Sie war leise wie die Nacht und schnell wie der Wind. Sie spürte die Aura eines Geschöpfes, welches sie nicht kannte.
Ein Fremder. Fremden ist nicht zu trauen. Fremde müssen vertrieben werden.
Die kleine Gestalt schwebte auf einen mit Moos bewachsenen Stein und spähte durch die Büsche.
Aha, da ist er! Der Fremde. Der Eindringling.
Aufmerksam beobachtete sie und folgte dem Menschen, welchen sie entdeckt hatte. Der Mann ging lange Zeit den Weg entlang und das Geschöpf traf einen Beschluss. Es würde sich jetzt zeigen.
Vielleicht folgt er mir. Vielleicht kann ich ihn zu meiner Herrin bringen. Dem Fremden darf man nicht trauen. Nein! Fremde müssen vertrieben werden.
Mit diesen Gedanken schwebte die kleine Gestalt auf die Straße, geradewegs auf den großgewachsenen Menschen zu.

Tarjo hätte beinahe laut aufgeschriehen, als ein kleines blaues Licht aus dem Unterholz kroch. Es war winzig, kaum größer als die Flamme einer Kerze. Es leuchtete blau und schien Mal heller, Mal schwächer zu glimmen.
Das Licht kam langsam auf ihn zu. Es schien keine Angst zu haben, wenn soetwas überhaupt Gefühle empfinden konnte.
Tarjo blieb wie angewurzelt sehen. Er wusste, was das vor ihm war: ein Irrlicht.
"Was willst du?" fragte er und versuchte seine Aufregung zu verbergen.
Das Licht antwortete nicht. Konnte es überhaupt sprechen? Konnte es ihn verstehen?
"Was willst du?" wiederholte er und trat einen Schritt zurück. Er fand es beunruhigend wie nah ihm das winzige Geschöpf kam. In der Dunkelheit war es gut zu erkennen. Es strahlte ein helles, leicht bläuliches Licht aus.
"Verschwinde!" rief er und fuchtelte mit den Händen, so als wolle er eine Biene verscheuchen. Doch das brachte nichts. Das Geschöpf näherte sich unaufhörlich. 
Tarjo machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in Richtung Kutsche, das Licht folgte ihm. Sein Herz begann zu rasen, er ging in einen leichten Laufschritt über. Immer wieder sah er über die Schulter. Der Regen war verschwunden, doch die blaue Flamme war ihm auf den Fersen.
Einmal stolperte er, da die Dunkelheit seine Augen erblinden ließ. Er fiel in den Matsch und wollte sich gerade aufrichten, als das Licht direkt vor seiner Nase schwebte.
Tarjo hielt den Atem an. Sollte er das Ding mit seinem Schwert bekämpfen. Lächerlich. Was sollte ein Schwert gegen blaues Licht ausrichten? Er müsste sich zusammen reißen. Es war nur ein Irrlicht. Es konnte ihm nichts tun. Es war ein winziges harmloses Licht.
Es schwebte immer noch vor seinem Gesicht. Jetzt bemerkte der junge Mann, dass die Flamme kleine Augen hatte. Es waren keine menschlichen Augen, es waren weiß leuchtende Punkte, die sein Gesicht musterten. Es hatte kleine Arme und einen Unterkörper, der an den einer Qualle erinnerte.
Das Licht wedelte mit seinen dünnen Armen und schien ihm irgendwas sagen zu wollen.
"Was willst du?" fragte Tarjo etwas verzweifelt. 
"Soll ich dir folgen?" Folge nie einem Irrlicht. Das hatte er als Kind gelernt, das würde er auch nicht tun. Er wollte nur das Verhalten der Flamme verstehen.
Bei seiner Frage hatte es abrupt aufgehört wild zu leuchten und mit den Armen zu wedeln. Es war nun ganz ruhig und glimmte in einem schönen Blau.
"Ich will, dass du verschwindest." sagte er ernst. "Ich werde dir nicht folgen!"
Sofort fing die kleine Kreatur an zu blinken und zu zappeln. Es war erstaunlich, wie es auf seine Worte reagierte.
"Wohin soll ich dir folgen?" Das Licht ließ fast alle Bewegungen erstreben, nur ein kleiner Arm deutete mitten in den Wald hinein.
Tarjo musste lachen. Er richtete sich auf, versuchte den Matsch von den Kleidern zu schütteln und ging am Irrlicht vorbei. Die Situation war nun etwas entspannter.
"Ich werde nicht in diesen Wald gehen. Niemals. Ich weiß was du bist! Du bist hinterhältig. Du willst mich zu deinen bösartigen Freunden führen, nicht wahr?" Rief er hinter sich.
"Ich habe noch nie so einen wie dich gesehen, ich hätte mir dich anders vorgestellt. Irgendwie... irgendwie anders halt." Tarjos Aufregung war verschwunden, er war sich nun sicher, dass das Irrlicht keine Bedrohung darstellte. Außer, er würde ihm folgen und das hatte er nicht vor.
Er sah über die Schulter, das Irrlicht klebte förmlich an seinen Stiefeln.
"Verschwinde! Du wirst mich nicht in die Irre führen." Noch bevor er den Satz ausgesprochen hatte, war das Irrlicht an seinem Bein entlang geflogen. Er konnte nicht reagieren, so schnell war es auf seine Schulter gehuscht. Es hatte kein Gewicht, doch es stahlte eine eigenartige Kälte aus. So als wäre es keine Flamme aus Feuer, sondern aus Eis.
'Freunde'. Das Wort ließ Tarjo inne halten. Es klang leise und laut zugleich. Es klang wie der Wind und kam ohne Zweifel von dem Geschöpf auf seiner Schulter.
'Freunde' wiederholte es.
"Du willst mich zu meinen Freunden führen?" fragte er leise.
Das Irrlicht war wieder auf den Boden vor seinen Füßen gehuscht. Es stand fast regungslos da, nur ein Ärmchen deutete in den dunklen Wald hinein. 'Freunde'  sagte die fremdartige Stimme.

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