Kapitel 5 - Schlafen. Und nie mehr aufwachen.

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Der Weg zum Park scheint ewig lang zu sein.
Ich blicke auf den Boden, nehme jeden Stein wahr. Ab und an trete ich gegen einen und sehe zu, wie er vorwärts springt und schließlich wieder liegen bleibt.

Ich schaffte es nicht.
Meine Stimmung hatte ihren Endpunkt erreicht. Ich wollte, wie so oft, nur noch sterben. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Ich gab auf.
Ich kapitulierte vor Gott. Doch er schubste mich zurück, zurück in mein Zimmer, den Arm voller rot glänzender, gerader Linien, aus denen langsam Blut hervorquoll.
Ich musste weinen. Ich wusste, ich konnte so nicht sterben. Ich wusste, wenn ich mein Leben hier und jetzt beenden wollte, reichten diese noch halbwegs oberflächlichen Schnitte nicht aus. Ich musste tiefer schneiden. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte nicht so tief schneiden, wie ich eigentlich wollte.
Mir fehlte der Mut. Es gab noch andere Möglichkeiten. Tabletten zum Beispiel. Einschlafen, mit dem Wissen, nicht mehr aufzuwachen. Doch die Zeit, die einem blieb, um darüber nachzudenken, was nach dem Tod kommt, machte mir Angst. Ja, verdammt, ich hatte Angst vor dem Tod. Und ich hatte Angst vor der Zeit vor dem Einschlafen.
Ich wollte es so sehr.
Aber ich schaffte es nicht.
Weinend und blutend schlief ich auf dem Fußboden zusammengekrümmt ein.

Ich bin da. Alles ist wie gewohnt. Die hohen Bäume dicht zusammengedrängt, sie bilden ein Dach aus Blättern über mir. Dort der Mammutbaum. Da die zwei Bäume, hinter denen die vermooste Bank steht.
Nein.
Es ist nicht alles wie gewohnt. Ich habe mich geirrt.
Alles steht dort, wo es sonst auch immer stand.
Aber da sind Menschen.
Menschen mit Fotoapparaten.
Menschen mit fasziniertem Gesichtsausdruck.
So viele Menschen.
Zu viele Menschen.
Warum sind sie hier? Hier ist nie jemand außer mir! Das geht nicht. Das darf nicht wahr sein. Ich will das nicht. Das ist meine Oase, verdammt!
Ich stehe immernoch am Eingang und starre auf alle. Ich schließe die Augen. Atme tief durch. Nein, Haley, denke ich. Konzentrier dich. Du bildest sie dir ein. Da ist niemand. Ich öffne meine Augen wieder.
Sie sind immernoch da.
Tränen sammeln sich in meinen Augen.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter, die mich zur Seite drückt. "Entschuldigung, darf ich mal?", fragt ein dicker Mann und schiebt sich an mir vorbei. Seine Augen leuchten, als er den wunderschönen Park sieht. Meinen wunderschönen Park.
Ich packe ihn am Handgelenk. "Äh, sorry, aber darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie oder besser gesagt: Sie alle", ich mache eine ausladende Armbewegung, "hier machen?"
"Wir kommen aus Deutschland", antwortet der Mann mit einem tatsächlich unüberhörbarem Akzent.
"Aha", erwidere ich. "Und was tun Sie hier?"
"Meine Frau und ich", sagt der Mann und gibt einer stark geschminkten Tussi ein Zeichen, dass sie zu uns kommen soll, "wollten schon immer England bereisen. Und es ist schöner, als wir dachten."
"Okay", sage ich. In meinem Kopf breitet sich langsam eine drückende Leere aus. "Aber ich meine, was machen Sie hier?" Ich deute auf den Park.
"Man hat ihn uns empfohlen als einen äußerst idyllischen Platz", antwortet die Frau in herablassendem Ton.
"Oh", sage ich nur noch.
Ich kann nicht atmen.
Langsam drehe ich mich um und gehe wieder auf die Straße. Ich fühle nichts mehr.
Ich weiß nicht, wo ich jetzt hin soll. Das war der einzige Ort, an den ich gehen konnte, um meine Ruhe zu haben. Seit der siebten Klasse war ich so ziemlich jeden Tag dort. Und jetzt wird er Touristen als "äußerst idyllischer Platz" vorgeschlagen.
Mein Herz klopft. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm.
Ich ertrage es nicht mehr. Ich kann das nicht mehr.
Man hat mir meinen einzigen Zufluchtsort genommen.
Die Leere füllt meinen Kopf nun vollständig aus und bahnt sich langsam ihren Weg hinunter zu meinem Herzen. Die Leere ist schwarz. Sie erdrückt mich. Sie zermalmt alles, was ich noch hatte. Den letzten Funken Hoffnung.
Ich hatte immer genau davor Angst, was jetzt passiert ist. Ja, mir kam manchmal der Gedanke, dass der Park eigentlich öffentlich ist und jeder, der grade Bock dazu hat, dorthin gehen könnte. Aber bisher habe ich diesen Gedanken immer erfolgreich verdrängt.
Innerlich schreie ich, schlage mich selbst dafür zusammen, dass ich nie darüber nachgedacht hatte, dass dieser Fall eintreten könnte.
Aber andererseits, was hätte ich ändern können?

Für viele mag es nur ein schöner Park sein.
Doch für mich war es mein Leben.
Eine Handvoll Derek's Asche liegt unter ein paar Blumen begraben, die ich zu seinen Ehren dort gepflanzt habe. Vergissmeinnicht. Er liebte diese Blumen. Und es passt. Er ist tot. Und ich werde ihn nie vergessen. Dieses Versprechen habe ich ihm gegeben, als ich weinend und auf Knien vor dem kleinen Blumen-Grab hockte, das zwar nicht sein offizielles, aber mein persönliches Grab für ihn ist. Aber dieses Versprechen ist nicht das einzige, das unter den Vergissmeinnicht vergraben ist.
Ich habe ihm versprochen, weiterzuleben. Es wenigstens zu versuchen, und das Leben so zu leben wie mit ihm an meiner Seite. Es für uns beide zu leben.

Und all dies werden nun irgendwelche scheiß Touristen zertrampeln, ohne es überhaupt zu merken.
Mein Versprechen, zu versuchen, mein Leben weiterzuleben.

Je mehr ich über die Frage nachdenke, wo ich denn nun hin soll, desto offensichtlicher wird es, dass ich nirgendwohin mehr kann.
Ich muss wohl oder übel in das Haus meiner Mutter.

Als ich ankomme, scheint mir die große, mit dunklem Holz umrahmte Eingangstür noch unheilvoller als sonst.
Vielleicht ist es, weil ich sonst immer den Fluchtpunkt im Hinterkopf hatte, den Park, Derek's Grab, die Bank.
Aber jetzt muss ich immer hier sein.
Wobei - was heißt immer?
Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich eigentlich nicht mehr in der Schule bin. Was ich als letztes zu meiner Lehrerin gesagt habe. Keine Sorge, die Kontrolle hole ich schriftlich nach und Sie werden sie morgen oder übermorgen erhalten.
Und jetzt fällt mir auch wieder ein, mit welchen Hintergedanken ich diese Worte sprach.
Selbstmord. Abschiedsbrief. Für immer schlafen. Und allen hinterlassen, dass ich sie nie brauchte.
Und dass sie alle dazu beigetragen haben - zu dem Tod einer Mitschülerin.
Aber was genau soll ich denn schon schreiben?
Ich bin ihnen doch sowieso nichts wert.
"Wozu ein Abschiedsbrief, wenn ihn niemand liest?"

Ich öffne die Tür.
Höre etwas poltern.
Ahne, dass es schon wieder meine Mutter ist, die betrunken gegen Möbel stolpert.
Gehe mit Schuhen die Treppen hoch, auf direktem Weg ins Badezimmer.

Ich finde, wie erwartet, Schlaftabletten. Zwei Packungen.
Ich schütte mir so viele in meine Hand, dass ein paar auf den Boden fallen und unter die Toilette oder den Badschrank rollen.
Ich kümmere mich nicht darum. Stattdessen atme ich noch ein, zwei, dreimal tief durch, werfe dann den Kopf nach hinten und die Tabletten in den Mund. Doch ich kann nicht schlucken.
Also mache ich den Wasserhahn an und forme meine Hände zu einer Schüssel. Dann schlucke ich die Tabletten zusammen mit dem Wasser. Doch ich kann nicht so viele auf einmal schlucken, also werfe ich ungefähr ein Drittel wieder zurück in die Packung. Ich spüle nochmal Wasser nach.

Es gab noch andere Möglichkeiten. Tabletten zum Beispiel. Einschlafen, mit dem Wissen, nie mehr aufzuwachen. Doch die Zeit, die einem blieb, um darüber nachzudenken, was nach dem Tod kommt, machte mir Angst. Ja, verdammt, ich hatte Angst vor dem Tod. Und ich hatte Angst vor dem Einschlafen.

Ich erinnere mich. Ich hatte immer Angst vor dem langsamen Prozess des Sterbens anhand von Tabletten.
Aber ich weiß jetzt, dass jede Art von Tod körperlich unangenehm ist, und am Entspanntesten und Schönsten ist doch das traumlose Schlafen.
Und dann der Tod. Und dann, was danach kommt.

Mir wird schwummerig. Das Zimmer dreht sich langsam vor meinen Augen, ich spüre, wie die Tabletten wirken.
Schon krass. Den größten Teil meines Lebens habe ich mir gewünscht, einfach zu sterben, und dies bin ich gerade im Begriff zu tun. Ich begehe Selbstmord.
So war es von Anfang an vorherbestimmt, das weiß ich schon lange.
Und jetzt habe ich endlich den Mut, mich zu befreien. Man muss nur einen Moment lang mutig sein. Dann kann alles vorbei sein.
Ich lehne mich gegen die Badewanne.

Und das Letzte, was ich spüre, ist, wie mein Kopf zur Seite kippt.

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt