Kapitel 9 - Leben im Krankenhaus (für ein paar Tage)

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Als ich zum gefühlt hundertsten Mal aufwache, ist mir zum ersten Mal nicht mehr so schlecht, dass ich brechen muss. Mir geht's zwar immer noch beschissen, aber ein wenig besser. Trotzdem stelle ich vorsichtshalber den Eimer in Reichweite. Ich bemühe mich, den beißenden Geruch zu ignorieren und nicht reinzusehen. Was ich aber wahrnehme, ist, dass der Eimer blau ist und etwas gelbes an dem Rand hängt, was eindeutig nichts mit meiner tablettenbedingten Kotzerei zutun hat: Ein Lappen. Ein gelber, glatter Putzlappen. Verdammt. Natürlich musste ich mich ausgerechnet in den Eimer der Putzfrau entleeren.
Ich taste mich langsam vor: hebe vorsichtig den Oberkörper, setze mich aufrecht hin. Drehe meine Beine Richtung Bettkante und setze vorsichtig die Zehen meines rechten Fußes auf den kalten Fliesenboden. Dann schwinge ich, in einer leicht übertriebenen Bewegung, auch mein anderes Bein über die Kante und stelle mich langsam auf die zittrigen Knie. Ich habe ein leichtes Schwindelgefühl, aber es passt schon, ich komme damit klar. Ich gehe ein paar langsame Schritte und erkunde das Zimmer, das ich für zwei Tage stolz mein Eigen nennen konnte und nun vielleicht noch ein bis zwei Tage. Nur hatte ich nie Gelegenheit, es mir anzusehen. Immer kam ein plötzlicher Brechreiz dazwischen. Oder das ekelhafte Krankenhausessen, das mir die Schwester dreimal am Tag brachte.
Ich stelle mich vor das große Fenster mit Ausblick auf die Straße. Menschen kommen und gehen, fahren mit Autos, Bussen, mit dem Fahrrad zum Krankenhaus hin und wieder zurück nach Hause oder sowas. Die Sonne scheint, was in letzter Zeit immer seltener passiert, und die Bäume wiegen sich in einem leichten Windzug. Ich öffne das Fenster einen Spalt und will gerade die frische Luft einatmen, als jemand ausruft: "NICHT DAS FENSTER AUFMACHEN!" Ich fahre herum. Mein Herz pocht wie wild und das Schwindelgefühl wird stärker. Ich setze mich auf die kleine Heizung, die direkt unter dem Fenster steht.
Die Schwester kommt auf mich zu, baut sich fast drohend vor mir auf, macht das Fenster wieder fest zu und verschließt es mit einem kleinen Schlüssel. Dann sieht sie mich an. Ihre Miene ist nicht zu durchschauen. Sie zeigt ihr schönstes Pokerface. Dann setzt sie an: "Wegen dem Fenster...", doch ich bin schneller und unterbreche sie. "Ich hatte nicht vor, zu springen. Ich brauchte frische Luft." "Aha", entgegnet sie. "Aber du weißt schon, dass du eigentlich auch noch nicht aufstehen darfst?" Ich seufze. "Ja", sage ich mit einer Spur Trotz in der Stimme. Die sollte erstmal selbst ein paar Tage nicht aufstehen dürfen und können. Dämliche Kuh. "Ich würde zu gern wissen, wer von den Kollegen vergessen hat, das Fenster zu verschließen...", murmelte sie gedankenversunken. Dann schüttelt sie leicht den Kopf, dreht ihn zu mir und zeigt ein wunderbares falsches Lächeln, das eher wie ein Zähnefletschen aussieht. "Also, wie geht es Ihnen?"
Ich zucke die Schultern. Körperlich geht es mir wieder relativ gut, ich fühle mich bloß schwach und mir ist noch etwas schlecht. Aber seelisch? Tatsächlich geht es mir gerade auch psychisch nicht ganz so schlecht wie vor drei Tagen, als ich so verzweifelt war, dass ich einen Suizidversuch startete.
Trotzdem, glücklich kann man das wohl kaum nennen.
"Ganz gut", sage ich.
Sie schlägt mit beiden Händen auf ihre Oberschenkel und steht auf. "Supi", sagt sie. "Essen kommt in einer Stunde." Sie fletscht noch mal die Zähne, zum Abschied, dann hastet sie zur Tür und zieht sie leise hinter sich zu. Stille. Auch die Kinderstimmen, die die letzten Tage quasi ununterbrochen im Gang gehallt haben, sind für mich verstummt.
Ich spüre ein großes Verlangen.
Nach Schmerz.
Nach Blut.
Nach einem Messer auf meiner Haut.
Ich stehe nun auch wieder langsam auf, massiere kurz meine Schläfen, und gehe in das Bad.
Es ist relativ klein, aber alles, was man so braucht, steht dort: Toilette, Waschbecken, Dusche. Auch ein Spiegel, der so breit ist wie das Waschbecken.
Ich sehe mich an. Große, graue, traurige Augen blicken zurück. Mein Mund ist ein wenig aufgequollen und die Haut um die Lippen leicht rot, wohl durch das viele Brechen. Ich sehe blass aus, was meine langen, schwarzen Haare mit dem schrägen Pony nur bestärken. Sie werden am Ansatz schon fettig, ich muss dringend wieder mal duschen.
Also ziehe ich mir das Nachthemd vom Krankenhaus aus und nehme mir ein Handtuch und das Shampoo aus meiner Tasche.
Stop.
Wer hat mir diese Tasche gepackt?
Ich halte mitten in der Bewegung inne, meine Waschtasche in der einen, das Shampoo in der anderen Hand, und denke fieberhaft nach.
Meine Mutter kann es eigentlich nicht gewesen sein. Sie war bestimmt wie immer total dicht, zugesoffen und vielleicht sogar unter Drogen, bei dieser Frau weiß man echt nie. Ich habe vor ein paar Monaten oder so ein kleines wiederverschließbares Plastiktütchen mit weißem, pulverigem Inhalt. Wie man sich das eben so vorstellt oder man es oft in Filmen sieht.
Also, meine Mutter schließe ich aus.
Sie liebt mich nicht. Das hat sie mir meiner Meinung nach oft genug gezeigt. Sie sagt oft, dass ich mich nicht erziehen lasse, ich wäre ein Problemkind. Ich bin ein Nichtsnutz. Ich bin schlecht in der Schule. Ich helfe nicht im Haushalt. Mein Vater hätte uns nur wegen mir verlassen.
Sowas halt.
Mein Vater war eines Tages einfach weg. Ohne eine Nachricht oder sowas stieg er wahrscheinlich morgens, noch bevor ich aufstand, in ein Taxi und fuhr weg. Er hatte auch all seine Sachen mitgenommen, die er wahrscheinlich in der Nacht gepackt hatte. Da war ich dreizehn. Er hat seine 13jährige Tochter zusammen mit einer stets unter Alkohol und/oder Drogen stehenden Mutter einfach allein gelassen und ist abgehauen.
Egoistisch, aber wer soll es ihm verübeln? Ich hätte auch so gehandelt, glaube ich. Meine Mutter sagt oft, dass ich nach meinem Vater komme.
Was in ihren Augen kein Kompliment mehr ist.
Er hat mir hin und wieder eine Email geschrieben seitdem, wo er ist, dass er mich trotzdem liebt und er weiß, dass ich schon klarkomme.
Geliebt hat er mich tatsächlich. Nur zu intensiv. Wenn ich abends im Dunklen im Bett lag und schon seine Schritte hörte. Wenn ich vor Angst Schweißausbrüche bekam, als die Türklinke langsam heruntergedrückt wurde. Weil ich immer wusste, was danach kommen würde.
Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon so dastehe, mitten im Raum, fast nackt, nur untenrum noch sehr leicht bekleidet. Und mir wird bewusst, dass die Tasche, die ich nun in der Hand halte, am Fenster stand. Dass ich, obenrum splitternackt, vor dem riesigen Krankenhausfenster stehe und vor mich hinstarre.
Erschrocken mache ich einen Satz rückwärts. Dann drehe ich mich schnell mit dem Rücken zum Fenster, stelle die Tasche wieder hin und mache mich auf den kurzen Weg zur Dusche.




So, Guten Tag auch :D
Mir ist aufgefallen, dass die Views meines Buches von Kapitel zu Kapitel weniger werden, und zwar rasant. Das finde ich ziemlich schade. Was mich aber ein bisschen stört, ist, dass ihr mir auch nicht sagt woran es liegt. Ihr könnt ja mal Kommentare da lassen, und ich werde sehen was sich tun lässt. Ich fände es einfach fair von euch, mir das Problem zu sagen. Ich gebe mir wie viele viele andere hier auch sehr viel Mühe, und ich möchte auch mal mein Geld damit verdienen, aber dazu muss ich WIRKLICH wissen, was noch doof ist. Vielen Dank :3
Liebe Grüße von Corsica, eure Amelie :D

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt