Kapitel 7 - ...und trotzdem tot.

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Ich bin in der Schule. Wir haben Sport.
Im Sport bin ich immer kurzärmelig angezogen, sodass jeder, der will, die geradlinigen Narben auf meinen Armen sehen kann. Aber natürlich sagt niemand etwas.
Wenn man mal zwei oder mehr Menschen beobachtet, die gerade einen Smalltalk angefangen haben, kann man sehr gut Folgendes beobachten:
Der eine fragt: "Wie geht's dir?"
Der andere antwortet: "Gut. Und dir?"
Der erste sagt: "Auch gut."
Aber eigentlich interessiert es niemanden, wie es einem wirklich geht, Hauptsache es füllt die Gesprächslücken und man überspielt die Unsicherheit. Warum also sollte man sagen, wie es einem wirklich geht, wenn sich sowieso niemand dafür interessiert?
Mir fällt das nur gerade so ein, weil ich zwei Mädchen aus meiner Klasse beobachte, die genau so ein Gespräch führen.
Ich finde es traurig. Entweder man redet wirklich, oder man lässt es. Man kann auch mal zusammen schweigen. Das ist auch wirklich schön, solange sich beide Gesprächspartner entspannen und es nicht so ein peinliches Schweigen ist.
Wer braucht schon Smalltalk? Ich hasse es. Und ich kann es auch nicht. Also ganz ehrlich?
"Sieben Runden zur Erwärmung!", ruft unser Sportlehrer. "Danach spielen wir Handball!"
Es nützt nichts - stöhnend bewegt sich nach und nach jeder, erst langsam, aber dann laufen wir alle im gleichen, relativ schnellen Tempo.
Ich bin gerade bei der letzten Runde, da wird mir schwindelig.
Meine Knie wackeln, vor meinen Augen flimmert es. Nach und nach wird mein Sichtfeld kleiner, es wird langsam dunkel.
"Haley?", höre ich Hope neben mir. Als ich nicht antworte, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich realisiere, dass ich auf die Knie gesunken bin. "Haley, alles in Ordnung?"
Langsam wird mein Sichtfeld wieder breiter, trotzdem ist noch alles verschwommen und der Boden dreht sich, als ich aufstehen will.
"Bleib sitzen, ich hole Mr Jansson."
Was bleibt mir anderes übrig? Ich bin also auf Hilfe angewiesen.
Ich spüre, wie mich eine Hand zwingt, mich hinzulegen, und mich auf den Rücken dreht. Irgendetwas quietscht und ich realisiere, dass Mr Jansson einen Tisch zu mir gezogen hat, auf den er nun meine Füße legt. Also liege ich da, unter meinem Rücken der kalte Boden und die Beine zu einem Tisch nach oben gestreckt. Meine hässlichen, vernarbten Beine.
"Ich rufe einen Arzt", sagt Mr Jansson. "Hope, bleib du bei Haley und Pass auf, dass sie nicht ohnmächtig wird."
Damit ist er auch schon weggeeilt, ich sehe nur seine Silhouette, die durch die verschwommene Tür huscht.
Ich spüre eine kühle Hand auf meiner. Hopes Hand. Ich sehe, dass sie mich anschaut, und langsam wird das Bild ihres Gesichts klarer, bis ich ihre großen grün-blauen Augen ganz scharf sehe. Ihre Sommersprossen. Ihre zu einem langen Zopf zusammengebundenen braunen Haare.
Natürlich ist ihr Blick wieder besorgt. Eigentlich wäre sie sogar ganz hübsch, wenn sie nicht immer einen auf Psychologin machen würde.
Ich werde wieder aggressiv. Verdammt, ich bin Haley! Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem!
Ich nehme meine Beine von dem Tisch und rappele mich hoch, bis meine immer noch wackeligen Knie mich halbwegs halten.
"Äh, Haley... Du... musst jetzt mal liegen bleiben...", stottert Hope unsicher.
"Pass mal auf", fahre ich sie an. "Ich muss gar nichts. Du brauchst hier nicht einen auf Mutter machen, oder auf Psychologin. Ich brauche deine Hilfe nicht. Oder die von Mr Jansson. Oder von irgendwelchen Ärzten!"
Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so ausraste, aber es passiert einfach.
Ich will aus der Turnhalle rennen, taumele aber erstmal gegen die Wand.
Da öffnet sich die Tür und Mr Jansson kommt herein - gefolgt von zwei Männern, die eine Trage in den Händen halten. Sie sehen ein bisschen verwirrt aus und sehen mich an, aber der etwas größere Mann fasst sich schnell wieder und sagt zu mir: "Leg dich bitte hier hin, den Kopf auf das Kissen", sagt er.
Ich schüttele den Kopf. "Mir geht's gut, wirklich!", sage ich. "Nein, das stimmt nicht", erwidert der Mann. "Dein Sportlehrer hat am Telefon gesagt, dass du im Unterricht zusammengeklappt bist. Also leg dich hin, wir helfen dir."
Er richtet das Kissen extra nochmal, und ich gebe nach. Bald werden es alle wissen. Ich, Haley Franklin, habe versucht, mir das Leben zu nehmen.
Sie schieben mich aus der Turnhalle und in ein Auto. Ich spüre die Blicke der anderen in meinem Rücken. Vielleicht ahnen sie was. Oder sie denken, ich hätte einen Gehirntumor. Was natürlich auch der Grund sein könnte, warum ich einfach nicht so bin wie die. Nicht normal bin. Versucht habe, mich umzubringen.
Oder sie denken gar nicht darüber nach, sondern sind einfach froh, dass ich weg bin. Ich glaube, viele aus meiner Klasse können mich nicht ausstehen. Ich bin ruhig, höre nur Musik, und wenn mich jemand komisch anmacht, kriegt er das Doppelte von mir zurück. Wenn nicht sogar was in die Fresse.
Bei Hope ist das irgendwie anders. Ich könnte ihr jeden Tag in die Fresse schlagen, weil sie immer diesen Blick drauf hat. Aber ich kann es nicht. Wenn ich kurz davor bin, dann sehe ich ihr in ihre wunderschönen grün-blauen Augen und werde ein bisschen ruhiger. Trotzdem bin ich dann noch aggressiv drauf, aber der Drang sie zu schlagen verkleinert sich und stattdessen schalte ich meine Musik an und drehe sie ganz laut, bis ich die Welt nicht mehr hören kann.

Jetzt liege ich also in einem Krankenwagen mit einem Mann neben mir, und es interessiert wahrscheinlich kein Schwein.

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt