Kapitel 10 - Das tiefe, dunkle Loch meines Lebens.

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Ich sitze gerade auf dem Boden, vor meiner Tasche, die durch mysteriöse Weise gepackt in meinem Krankenhausschrank gelandet war, und packe meine Sachen wieder zusammen, als es klopft. Leise, zögerlich. Fast überhöre ich es. Ich seufze genauso leise. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet. Und eigentlich habe ich auch keine rechte Lust auf Besuch.
Andererseits ist es schön, dass sich jemand um mich sorgt. Ich lächele ein wenig in mich hinein.
Reiß dich zusammen!, ruft mein Verstand. Am Ende ist es eh nur eine zu schüchterne Schwester. Und dann bist du enttäuscht.
Prompt höre ich auf zu lächeln und räuspere mich.
Noch einmal klopft es, diesmal ein wenig lauter. Ich lege bewusst eine Spur Genervtheit in meine Stimme, bevor ich "Ja?" rufe. Leise öffnet sich die Tür, und ein Kopf mit großen, grün-blauen Augen und Sommersprossen, gerahmt von schulterlangen, glatten braunen Haaren sieht herein.
"Hi", sagt Hope schüchtern.
Ich bin überrascht. Eher noch hätte ich meine tote Großmutter erwartet, als jemanden aus meiner Klasse. Dass die sich überhaupt um mich sorgen, ist eine Attraktion für sich. Gott, klinge ich selbstmitleidig. Traurig, dass es trotzdem die Realität ist. Dieses Leben sollte nicht ich leben. Das war eine Verwechslung. Aber ich schaffe schon noch, aus der Welt zu verschwinden, in die ich nicht gehöre, und zwar ist das diese hier, um in meine Heimat zu kommen, meine echte Heimat: Den Tod. Vielleicht auch der Himmel. Aber um Gottes Willen, an ein Leben nach dem Tod beziehungsweise, schlimmer noch, an Wiedergeburt will ich gar nicht denken.
"Mach mal den Mund zu", kichert Hope, fängt sich aber schnell wieder. Sie steht noch immer in der offenen Tür, die Klinke in der Hand. "Ähm... Darf ich reinkommen?"
Mir wird erst jetzt bewusst, dass ich sie, seit sie die Tür aufgemacht hat, mit offenem Mund angaffe. Schnell sage ich: "Oh, äh... Ja klar, komm rein, setz dich."
Sie nickt, kommt rein und lässt sich distanziert auf dem Stuhl, der gleich neben meinem Schrank steht, nieder.
Eine kurze Schweigepause entsteht. Dann räuspert sie sich: "Äh, wie geht's dir?"
Natürlich. Fangen wir gleich mit der schwersten und schlimmsten Frage an, denke ich.
Ich zucke die Schultern. "Ganz gut", sage ich schließlich. Smalltalk also. Vielleicht schaffst du es diesmal. Allerdings klingt es eher wie eine Frage.
"Wirklich?", fragt Hope und sieht mich forschend an.
Gott, echt jetzt? Was soll das?
Ich rolle mit den Augen. "Jaha!", sage ich genervt.
Jetzt wird ihr Blick plötzlich wieder zurückhaltend und fast ein bisschen verletzt. Selber schuld. Ich habe kein Mitleid. Ich habe jahrelang daran gearbeitet, kaum noch Gefühle zu empfinden oder, falls ich mich mal nicht im Griff habe, zu zeigen.
"Was willst du hier?", setze ich eins drauf. Mein Ton sollte ihr eigentlich zeigen, dass ich absolut keinen Bock auf Besuch und schon gar nicht auf sie, die kleine Möchtegern-Psychologin, habe.
Doch jetzt habe ich das Gefühl, sie ignoriert diesen Ton gekonnt.
"Du wirst entlassen, oder?", fragt sie statt einer Antwort.
Ich nicke. "Morgen", füge ich hinzu.
"Schön." Hope nickt ebenfalls. Sie wirkt nachdenklich. "Haley, wenn ich etwas für dich tun kann...", setzt sie an, doch ich unterbreche sie.
"Mir geht es gut, danke." Langsam werde ich wütend. Was bildet sie sich eigentlich ein? Ich bin kein kleines Kind, niemand muss sich um mich kümmern, und schon gar nicht sie. Diese kleine Schlampe soll mich einfach in Ruhe lassen.
"Okay, tut mir leid, ich dachte bloß, weil..."
Und wieder lasse ich sie nicht ausreden, sondern sage laut: "Du brauchst überhaupt nichts denken! Mein Leben geht dich nichts an, also lass mich in Ruhe und verpiss dich."
Sie glotzt mich mit offenem Mund an. "Los, geh!", sage ich noch einmal. "Ich brauche keine Hilfe." Und jetzt erst erhebt sie sich langsam. Sie lässt mich nicht aus den Augen. Dann dreht sie sich um und geht zur Tür. Sie legt die Hand auf die Klinke, hält inne und sieht mich noch einmal über die Schulter an. "Du wolltest dich umbringen", sagt sie leise. "Ich glaube nicht, dass es dir wirklich gut geht. Melde dich bei mir, wenn du es dir anders überlegt hast."
Mit diesen Worten öffnet sie die Tür und geht.
Ich sitze immer noch auf dem Boden. Ich komme mir dumm vor, ich muss aussehen wie ein kleines Kind, obwohl ich weiß, ich bin keins. Trotzdem, wie ich mit gespreizten Beinen auf dem Boden sitze wie in einem Sandkasten und vor mir meine Tasche wie eine Sandburg, muss ich wohl Beschützerinstinkte auslösen. Anders kann ich mir Hopes Auftritt nicht erklären.
Ich lasse mich mit dem Rücken gegen mein Bett sinken und schließe die Augen. Ich sehe das Bild meiner Klasse vor mir, wie mich die Leute jeden Tag ansehen: genervt, wütend, herablassend. Ich hätte wirklich nie im Leben gedacht, dass mich jemand von ihnen besuchen kommen würde. Und dann habe ich dumme Kuh auch noch den einzigen Besucher vergrault. Genau das, was ich die ganze Zeit versuche zu verhindern, ist jetzt passiert: Hopes Besuch, ihre Worte und ihre mehr als sichtbaren Gefühle haben mich getroffen.
Ich könnte mich ohrfeigen.
Ich öffne die Augen wieder und erhebe mich. Ich laufe herum und suche irgendetwas Spitzes. Ich muss mich für mein bescheuertes Verhalten bestrafen, so viel steht fest. Da macht sich mal jemand Sorgen um mich, zumindest soweit, dass sie mich besuchen kommt, und ich sage, sie soll sich verpissen. Scheiße. Jedes Mal, wenn ich über diese Situation von eben nachdenke, könnte ich mir eine reinhauen. Aber richtig fest. Sodass es sehr weh tut, das wäre das Beste. Schließlich habe ich es verdient. Ich schaue zuerst nochmal im Bad. Aber es gibt weder eine Nagelschere noch irgendwas anderes zum Schneiden, also gehe ich zurück in mein Zimmer und sehe in der Schublade in dem Nachtschränkchen neben meinem Bett nach. Nichts. Nicht mal Papier.
Dann durchwühle ich auch meine Tasche noch einmal. Nichts, nichts und wieder nichts. Ich könnte heulen. Ich muss doch irgendwas tun können. Es gab bisher immer eine Möglichkeit, und wenn nicht, habe ich immer improvisiert.
Den Spiegel einzuschlagen kommt mir jetzt langsam doch wie ein relativ guter Plan vor. Ich ziehe die Hand aus meiner Tasche, da fühle ich etwas Kleines, Kaltes. Ich sehe hin und entdecke einen kleinen Reißverschluss. Er ist ein wenig hinter einem Stück Stoff versteckt. Ich öffne ihn. Etwas schmutzig Silbernes blitzt auf, und in mir keimt Hoffnung auf und die Erinnerung daran, dass ich vor einer Klassenfahrt die Rasierklinge in eine kleine Seitentasche gesteckt habe. Bisher hatte noch nie jemand diese Tasche bemerkt, deswegen hatte auch niemand meine Klinge gefunden. Sie ist schon ein wenig verrostet, wegen des häufigen Gebrauches. Ich habe sie jedes Mal mit warmem Wasser abgespült.
Trotzdem macht sie ihren Job noch gut.
Sie schneidet.
Wer auch immer mir diese Tasche gepackt hat, muss selbst auch wieder das Versteck übersehen haben. Oder aber ignoriert...
Ja, vielleicht hat derjenige die Klinge zwar gesehen, aber sie extra drin gelassen? Weil er will, dass ich mich weiterhin schneide?
Nein. Das ist Quatsch. Wenigstens das merke ich noch selber.
Mit Fingerspitzen und ganz behutsam nehme ich meinen kleinen Freund in die Hand. Vorsichtshalber sehe ich mich im Zimmer um, aus Angst, ertappt zu werden.
Ich bin so froh, dass ich die Klinge nie aus ihrem Versteck geholt habe. Nein, falls ich mal auf Reisen gehen müsste, sollte diese Klinge immer mit.
Ich wiederhole die Szene mit Hope noch einmal in meinem Kopf, und mein Herz zieht sich wegen meiner Dummheit ein wenig zusammen. Dann setze ich an und ziehe die Rasierklinge über meine Haut.

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