Kapitel 3 - Musik an, Welt aus.

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Physik. Erste Stunde. Als die Tür zum Physikraum hinter mir zufällt, klingelt es. Es ist diese schrille Schulklingel, die einem das Trommelfell platzen lässt. Ich stehe mitten im Raum und weiß nicht, wohin. Überall sind Menschen, Menschen, mit denen ich nichts zutun haben will, weil sie alle gleich sind. Alle sind sie zufrieden mit ihrem oberflächlichen Leben, ohne wirklich zu überlegen, ob sie das auch sein können.
Ob es berechtigt ist, glücklich zu sein, in einem Leben, das man nur lebt, um irgendwann zu sterben.
Warum nicht früher, als vorgesehen? Warum sollte man sich durch dieses endlos lange Leben quälen, wenn man immer damit rechnen muss, a) verletzt zu werden oder b) unangenehmer zu sterben, als es sein muss? Warum sollte man das Leben nicht gleich beenden, wenn man dies erkannt hat?

Weil man sich nicht traut.

Man hofft nur noch.

Hofft darauf, dass Gott oder sonst wer einen sieht und das Leid. Dass er einem einen kurzen, schmerzlosen Tod bereitet.

Willkommen in meinem Kopf bei meinen Gedanken, Tag für Tag für Tag. Diese Dämonen. Sie fressen mein Hirn. Sie ziehen mich in ihr endlos tiefes, endlos dunkles Loch. Und sie lassen mich nicht raus.

Aber ich habe auch schon lange aufgegeben, mich dagegen zu wehren, wenn sie mir ihre Weltansichten ins Ohr flüstern oder wie sinnlos das doch alles ist, oder dass ich doch sowieso alles falsch mache oder, dass ich doch gleich aufgeben soll oder, dass ich niemandem vertrauen darf, weil das eh nur zum Verlust eines großen Teils meines ohnehin schon kleinen Selbstbewusstseins und Vertrauens führt.

Ich will es nicht hören. Nicht jetzt.

Langsam setze ich mich in Bewegung und laufe zu meinem Platz in der hintersten Ecke des Raumes. Es ist schon längst Ruhe in die Klasse gekehrt, ich stand wohl ziemlich lange so an der Tür, ohne mich zu rühren. Alle Augen sind auf mich gerichtet, eingeschlossen die meiner Lehrerin Ms Derris. Ich versuche, meine Unsicherheit zu kaschieren, indem ich Ms Derris' Blick mit einem eiskalten erwidere.

Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen, rutsche mit dem Po an die vordere Kante und lehne mich an.

"Na", sagt Ms Derris, "ausgeschlafen? Du solltest dir einen Wecker stellen."

Die Klasse kichert. Ich bleibe still. Mein Kopf ist unendlich laut. Ich schreie: "Halten Sie doch Ihr Maul! Sie haben keine Ahnung von mir! Krass ist, dass ich überhaupt noch in dieses Gefängnis gehe. Ich glaube nämlich nicht an Zukunft, und ich glaube nicht an mich. Eher würde ich mich umbringen, als noch länger hier zu sein!" Aber ich schreie es nur in Gedanken.

Ich wünschte, ich hätte die Kraft dazu, ein Argument zu bringen, das sie zum Schweigen bringt. Sie alle. Aber es geht nicht. Ich habe Angst, etwas zu sagen. Es würde auch nichts bringen. Warum also die Mühe?

Stattdessen starre ich auf meinen Tisch.

Nach einer Ewigkeit schließlich beginnt Ms Derris mit dem Unterricht. Ich blende mich aus. Es interessiert mich nicht.

Also nehme ich meinen Ipod und stelle Musik an. Ich stelle sie so laut, dass niemand mithören kann und muss, aber nicht so leise, dass ich nichts höre von der Musik.

Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und lasse mich noch tiefer in den Stuhl sinken. Ich knauble an meinen Fingernägeln herum und starre auf den Tisch. Er ist übersät mit eingeritzten Sprüchen oder bloß Wörtern, die ein Insider sind und niemand außer demjenigen, der diesen Insider kennt, wird es jemals kapieren. Manchmal sind es auch keine Insider, sondern einfache Wörter, bei denen es nicht viel zum Verstehen gibt außer das Wort selbst. Wörter wie "Dead", "Youtube" (mit einem Herz dahinter), "Pupsii" oder sowas. Hin und wieder auch ein Satz wie "Physik ist soooooo langweilig" oder "Max ist sexy".

Und wenn man ganz genau hinsieht, kann man vor längerer Zeit aufgeschriebene Telefonnummern erkennen, die schon total verblasst sind oder überschmiert.

Diese ganze Schmiererei auf den Bänken - alles Beweise dafür, dass es auch vor etlichen Jahren oder sogar Jahrzehnten Schüler wie uns gab, die den Unterricht genauso langweilig fanden oder denen es auch scheiße ging, wegen ihren eigenen Problemen. Beweise dafür, dass jeder mal ein Problem hat, vor allem in seiner Jugend, die vielleicht später von keiner Bedeutung mehr sind, und diese Menschen, die mal so waren wie wir und die bestimmt einige Probleme von uns in- und auswendig kennen, können vielleicht heute, wenn sie alt und grau sind oder mittleren Alters und reiche Unternehmer mit einer hübschen Frau und zwei Kindern sind oder Obdachlose unter der Brücke sind, über ihre Problemchen damals lachen. Weil das Leben noch viel härter wird als wir, die Jugend, es uns jetzt vorstellen können.

Ich seufze und stelle ein anderes Lied an. Reign upon me. Show me how I will survive. Try and tell me a way to feel alive...

Plötzlich bemerke ich die Präsenz meiner Lehrerin direkt vor mir. Langsam blicke ich auf. Sie steht mit verschränkten Armen vor mir.

Ich sehe, wie sich ihre schmalen, rot geschminkten Lippen bewegen. Aber ich bin nicht gut im Lippenlesen. Keine Ahnung, was sie da labert.

Je schneller sich ihre Lippen bewegen, desto wütender werde ich. Ich habe nämlich mittlerweile erkannt, dass sie 1. immer das gleiche sagt, und dass es 2. der Satz ist, den ich am allerwenigsten hören will: "Mach die Musik aus. Mach die Musik aus. Mach die Musik aus." Was soll ich jetzt machen? Sie ignorieren? Oder ihr ... gehorchen?

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie meine Banknachbarin Hope mich besorgt von der Seite ansieht. Besorgt. Wie so 'ne Psychologin. Das kotzt mich so an. Diesen Blick hat sie immer drauf, habe ich das Gefühl. Wenn ich alleine rumsitze. Besorgter Blick. Wenn ich Musik höre. Besorgter Blick. Wenn mich meine Lehrerin runtermacht und ich wieder mal kurz davor bin, einfach aus dem Unterricht zu gehen. Besorgter Blick.

Provozierend sehe ich Miss Derris an und hebe ganz langsam die Hand, um einen meiner Kopfhörer rauszuziehen. Sie sieht wütend aus. Und ich finde es gut. Sie hat es verdient, diese...

"Na, kannst du dieses Thema gut?", fragt sie mich. "Dann kann ich dich ja zu einer mündlichen Kontrolle nach vorne bitten, richtig?" Ich lasse meine Augenlider ein wenig sinken, sodass ich genervt gucke, und hebe eine Augenbraue. "Natürlich", sage ich. "Ganz wie Sie wünschen. Sie sind ja... der Boss, Miss Derris Schätzchen."

Langsam schüttelt sie den Kopf. "Ich weiß echt nicht, was ich mit dir machen soll." Da habe ich eine Idee. Eine verdammte Idee. Mir wird sie helfen.

Ich stehe auf und nehme meinen Beutel. Ich mache einen Schritt in den Gang zwischen den Tischen und nach vorne. Sie schaut irritiert. "Was soll das werden?", fragt sie mich. "Willst du 'nen kleinen Spaziergang machen?"

Ich gehe schneller, bis ich schließlich an der Tür bin. Dann drehe ich mich um. Alle sehen mich an. Von geschockt zu irritiert zu arrogant. Ich sage zu Miss Derris: "Ja. Keine Sorge, die Kontrolle hole ich schriftlich nach und Sie werden sie morgen oder übermorgen erhalten."

Dann drehe ich mich um und gehe aus dem Raum.

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt