Kapitel 11 - Erkenntnis

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Ich hatte Glück. Ich hab eine unaufmerksame Schwester erwischt, der das Wohl ihrer Patientinnen vielleicht auch scheißegal ist. Ich habe mir einen schwarzen Sweater wegen der Kratzer übergezogen. Außerdem schwarze Jeans. Dann wurde ich aus meinem Zimmer in den Krankenhausflur geführt, bis zu einer Tür aus Plexiglas. Sie wurde für mich geöffnet und ich war frei.
Jetzt stehe ich seit vielleicht 10 Minuten vor ebendieser Tür. Ich kann mich nicht rühren. Wo soll ich hin?
Ich habe mir die ganze Zeit über keine Gedanken darüber gemacht, wohin ich gehen soll, wenn ich entlassen würde. Und jetzt ist es soweit. Jetzt muss ich überlegen.
Eigentlich habe ich keine Wahl: Mein Zuhause oder... Tja, da hört es auch schon auf. Ich habe nur das Haus meiner Mutter. Die hat vielleicht noch nicht mal mitbekommen, dass ich weg war. Bei diesem Gedanken verspüre ich einen kleinen Stich im Herzen.
Gott, Haley, denke ich, hat dich das Krankenhaus etwa sensibel gemacht?
Nein, das geht so nicht, entscheide ich.
Ich laufe los. Ich muss nach Hause. Ich muss nach meiner Mutter sehen. Vermutlich habe ich tief, tief in mir noch die Hoffnung, dass sie mich doch ein Stück weit liebt. Ich bin schließlich ihre Tochter. Jeder liebt sein Kind.
Ich streiche mir eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und laufe ein wenig schneller. Vielleicht hat sie mir ja die Tasche gepackt, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht hat sie einmal um mich geweint, weil ich versucht habe Suizid zu begehen? Vielleicht hat sie mich immer geliebt, und nur der Scheiß-Alkohol und ihre Drogen haben sie ihre Gefühle nicht zeigen lassen, sondern sie nur aggressiv gemacht?
Ich bin jetzt an einer Kreuzung, ungefähr ein bis zwei Kilometer vom Krankenhaus entfernt, an der auch ein Bus hält. Ich setze mich an die Haltestelle und atme mehrmals tief durch. Ich bin die letzten Meter gerannt. Ich habe in diesem Moment Hoffnung wie noch nie. Hoffnung auf Liebe. Hoffnung auf Glücklich-Sein. Hoffnung auf Vertrautheit, und auf mütterliche Sorge.
Die Tage außerhalb haben mir doch gezeigt, dass Menschen sich Sorgen machen. Eine Schwester, eine Blondine mit blauen Augen zum Beispiel, die habe ich in der Klinik am Liebsten gehabt. Nur bei ihr hatte ich wirklich das feste Gefühl, ein vollwertiger, ernstgenommener Mensch zu sein. Leider nur war sie kaum anwesend, zumindest nicht bei mir.
Ich muss an das Gespräch mit dem Psychologen denken. Gleich am zweiten Tag klopfte es und ein großer, souveräner Mann mit kurzen grauen Stoppeln auf dem Kopf und Drei-Tage-Bart kam herein. Ich wusste nicht, was los war, aber eigentlich hätte ich es mir denken können. War ja klar, dass sie den Leuten, die versucht haben, Suizid zu begehen, einen Psychologen an den Hals schicken.
Er setzte sich also an den Tisch und legte ein schwarzes Klemmbrett und einen kleinen Stift vor sich. Dann bat er mich mit tiefer Stimme zu sich. Als ich saß, stellte er sich mir als Dr. Paulsen vor und fragte anschließend, warum ich hier bin. Mittlerweile war auch mir klar, wer genau er war.
Aber da ich raus wollte statt in die Geschlossene eingewiesen zu werden, sagte ich: "Ja. Ich habe aus Versehen zu viele Schlaftabletten geschluckt." Ich schaute extra ein wenig bedrückt und beschämt, damit er mir glaubte. Trotzdem hakte er nach: "Aus Versehen?" Er schaute mir skeptisch in die Augen. Ich nickte, ich versuchte, unschuldig und jung auszusehen. Ich machte große Kinderaugen.
"Ja... Wissen Sie, ich konnte nicht schlafen. Immer, wenn das der Fall ist, nehme ich ein paar Tabletten. Aber diesmal sind mir wohl einige zu viel in die Hand gekullert. Ich habe nicht aufgepasst. Aber ich habe mir geschworen, ab jetzt immer Acht zu geben."
Er sah mich weiter an. Es wurde still, und ich fragte mich, wie überzeugend das für ihn geklungen hatte. Aber schließlich nickte er und widmete sich seinem Papier. Er kritzelte etwas darauf, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
"Wie oft können Sie nachts nicht schlafen?"
Ich zuckte die Schultern, um ihm zu symbolisieren, dass es nicht wichtig ist, da es kaum passiert. Doch von seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass er Worte wollte. Ich seufzte. "Das kommt eigentlich eher selten vor. Nur diesmal war es schlimmer als sonst. Keine Ahnung warum. Und deswegen wollte ich eine oder zwei mehr nehmen. Wie gesagt, es war ein Unfall."
Er runzelte die Stirn. Ich musste mir irgendwas einfallen lassen. Er musste mir einfach glauben. Ich wollte hier raus.
Manchmal kann man Psychologen auch ganz gut veralbern. Und zwar indem man ihnen ein Problem gibt. Eines, das es möglicherweise wirklich gibt, das aber total belanglos ist. Und dann macht man es groß. Dann hat er was zum Beißen.
Wieder seufzte ich, diesmal tiefer. "Na gut, das mit der Schlafstörung... Ich habe gelogen. Ich kann ziemlich oft nicht einschlafen. Ich habe Bauch- und Kopfschmerzen. Mir wird heiß. Und dann wieder kalt. Ich tigere in meinem Zimmer auf und ab. Diese Nächte sind schrecklich."
Wenn der wüsste, was ich wirklich für Probleme habe, dachte ich.
Aber jetzt sah er überzeugter aus. Er lehnte sich auf dem Stuhl nach vorne und stützte seinen Kopf in die Hände. "Wissen Sie, woran das liegen könnte?", fragte er mich. Ich tat, als würde ich überlegen. "Ich denke", sagte ich schließlich, "das liegt an dem Schulstress. Seit ich auf der Highschool bin, geht das so. So ziemlich jede Woche schreiben wir Tests über Tests, und man kommt kaum hinterher. Dieser Stress macht mich wahnsinnig, glaube ich."
Er nickte. "Das geht fast allen so", erwiderte er. "Das Schulsystem wird immer schlimmer. Hm... Vielleicht sollten Sie versuchen, sich nichts davon so persönlich zu nehmen. Viele in Ihrem Alter machen sich dann Vorwürfe, wenn sie schlechte Noten schreiben. Sie denken dann, sie könnten es einfach nicht. Deswegen brechen viele die Schule ab und beginnen lieber eine Lehre. Das macht ihnen Spaß und sie sind gut darin."
Er hatte sich warm geredet und ich wusste, mein Plan war aufgegangen.

Ich lächele. Mann, bin ich eine gute Lügnerin. Meine Hoffnungen werden größer und größer, dass ich geliebt werde. Zuhause. Dass ich gebraucht werde.
Endlich kommt ein Bus. Ich gehe frohen Mutes auf ihn zu und steige ein.

Als ich in unserer Straße ankomme, wird die Zuversicht wieder kleiner, krümmt sich allmählich zusammen. Diese Straße sieht so leer aus, so tot. So dunkel und trostlos. Hier bin ich aufgewachsen. Ein verlassener Spielplatz, eine kleine Schaukel und ein Sandkasten. Asphalt. Alte, düster aussehende Häuser.
Trotzdem, den erst neugewonnenen Mut will ich mir nicht nehmen lassen. Auch wenn das dunkle Loch der Depression mich immer mehr zu sich zieht, wie ein Magnet. Es war immer mein Zufluchtsort und gleichzeitig die Hölle. Und ich bin versucht, mich der Anziehungskraft hinzugeben. Wieder aufzugeben.
Nein. Versuche es.
Ich bin überrascht von mir selbst, aber ich gebe mir Recht. Ich sollte es versuchen.
Ich atme einmal tief durch und schreite dann an den paar grauen Häusern vorbei. Sie wirken sogar bei Tageslicht extrem gruselig. Ich fühle mich von allen Seiten beobachtet. Durch ein paar eingeschlagene Scheiben vielleicht?
Ich schüttele den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben und Platz für die Hoffnung zu machen.
Ich komme an der Haustür an, hinter der ich wohne. Aufgekratzt hole ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Ich schiebe ihn ins Schloss und drehe ihn. Meine Hoffnungen erreichen ihren Höhepunkt.
Ich öffne die Tür. Stickige Luft und der Geruch von Alkohol schlagen mir ins Gesicht.
Alles ist wie immer. Wie immer höre ich meine Mutter schniefen. Ich höre eine Glasflasche runterfallen, oder ein Weinglas oder so. Ich sehe Rauch aus der Küchentür wabern.
Und da wird es mir schlagartig klar. Da lande ich schlagartig auf dem Boden der Tatsachen. Auf dem Boden des Loches.

Meine Mutter liebt mich nicht.

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt