Wir sitzen uns gegenüber am Küchentisch. Ich klammere mich an meinen Kaffeebecher, den Hope vor mich gestellt hat. Ich umfasse ihn so fest, suche so sehr Halt an ihm, dass ich sogar damit rechne, dass er gleich in tausend kleine Scherben zerbricht. Sie würden sich in meine Haut bohren, in meine Hand, meinen Arm, vielleicht mein Gesicht... Aber nichts von alledem passiert, und so hebe ich den Becher zu meinem Mund und trinke einen winzigen Schluck. Ich bringe ihn kaum herunter, was nicht daran liegt, dass er nicht schmeckt - er schmeckt fantastisch, das kann man einen Kaffee nennen -, aber Hopes Frage von vor gefühlt zehn Stunden lässt mein Herz rasen und meine Gedanken im Kreis drehen.
Sie bleibt geduldig, sieht mich an. Sie wartet auf eine Antwort. Lässt nicht locker.
Ich starte den Versuch, ihren Blick zu erwidern, doch das scheitert kläglich und ich starre wieder in meinen Kaffee.
Sie legt mir quer über den Tisch ihre warme Hand auf den Unterarm.
"Haley?", fragt sie. "Woran denkst du?"
"Ich denke über deine Frage nach", murmele ich. Das ist nicht die komplette Wahrheit, aber es ist auch keine Lüge. Schließlich weiß ich die Antwort auf die Frage ja. Es ist eher, warum sie das gefragt hat und was ich ihr jetzt vorsetzen könnte, um einem "psychologischen Gespräch" zu entkommen.
"Wirklich?", fragt sie. Ich nicke.
"Du musst mir auch nicht antworten", sagt sie schließlich. Jetzt sehe ich ihr doch in die Augen. Ich atme erleichtert auf.
Sie sieht mich misstrauisch an.
"Ich kann mir vorstellen, dass es für dich nicht leicht ist", erklärt sie. "Vielleicht musst du erst einmal Vertrauen fassen. Ich weiß zwar nicht, ob du das jemals tun wirst und ob du mir dann etwas erzählst, aber ich hoffe es. Alles liegt im Ungewissen."
Ich erwische mich dabei, wie ich wieder an meinen Fingernägeln herum knauble und nehme die Hand aus dem Mund.
Dann beuge ich mich leicht vor und flüstere: "Ich weiß es auch nicht."
Ich bin nicht nur Hope oder meiner Mutter ein Rätsel, sondern auch mir selbst. Manchmal bin ich in dem einen Moment total gut drauf und voller Hoffnung, dass ich bloß übertreibe mit meinen Problemen, und im anderen Moment bin ich so down, dass ich mich wieder ritzen muss. Für letzteren Zustand braucht es die kleinste falsche Berührung. Das kleinste falsche Wort.
Quatsch, sagt mir eine Stimme im Hinterkopf, die Stimmungsschwankungen gehören nur zu der Pubertät. Aber dass du nicht mit eben diesen Stimmungsschwankungen klarkommst, ist der Grund für deine Verzweiflungszustände.
Ich mache kurz den Mund auf, um Hope genau das zu sagen, aber sie bemerkt es ausnahmsweise mal nicht. Oder sie ignoriert es tatsächlich. Vielleicht will sie mich zwingen, doch damit zu warten, bis ich mir sicher bin, dass ich sie einweihen will.
"Vielleicht sollte ich erstmal was von mir erzählen?", sagt sie. "Wie sollst du denn Vertrauen fassen, wenn wir uns nicht mal gut kennen?" Ich nicke zustimmend.
"Okay, dann mal los. Was willst du wissen?"
Ich bin ein wenig vor den Kopf gestoßen. Ich dachte eigentlich, sie fängt einfach an zu erzählen. Was soll ich sie denn fragen? Wo ist die Grenze? Wie weit kann ich mit meinen Fragen gehen?
"Kannst du nicht einfach erzählen? Von Anfang an?", frage ich also.
Jetzt sieht sie ein wenig vor den Kopf gestoßen aus. Stoßaustausch. Beinahe muss ich schmunzeln, aber eben nur beinahe. Ich sehe sie erwartungsvoll an und sehe, wie sie sich wieder fängt und sagt: "Ja. Du hast Recht."
Dann beginnt sie.
"Ich bin Hope Edison, am 13. Februar 1998 in London geboren. Meine Mutter heißt Marian und mein Vater Jonathan. Die beiden sind verheiratet und haben an jedem 3. Freitag im Monat einen "Dating-Abend", dann gehen sie romantisch essen oder machen einen Ausflug, Hauptsache, sie machen es nur zu zweit.
Während dieser Zeit sind meine ältere Schwester und ich alleine Zuhause und genießen die Ruhe. Naja, was heißt das schon: Sagen wir, wir genießen eher das Sturmfrei. Meistens laden wir irgendwelche Freunde von ihrer Uni ein und auch einige von mir, und dann wird hier Party gemacht. Wir haben nunmal das Glück, dass unsere Eltern jedes Mal erst am nächsten Nachmittag zurück kommen, sie haben sich irgendein Hotelzimmer genommen oder waren zelten oder was auch immer.
Meine Schwester heißt übrigens Stella und sie ist 21 Jahre alt. Sie studiert woanders, aber meine Eltern heuern sie ständig als "Babysitter" für mich an.
Sie ist kein guter Babysitter, um das mal festzuhalten." Sie lächelt. "Naja, ich erzähle jetzt mal was von mir, statt nur von meiner Familie." Sie muss kurz überlegen, was sie erzählen kann. "Also, ich fange jetzt einfach mit diesen Standard-Sachen an. Meine Lieblingsfarben sind orange und gelb. Meine Lieblingsband ist Nirvana. Mein Lieblingsfilm ist Donnie Darko. Mein Lieblingslied..."
Ich unterbreche sie, indem ich eine Hand hebe.
"Donnie Darko?", frage ich. "Worum geht's da? Ich habe den Namen schon mal gehört, ihn aber nie gesehen."
"Wie wär's", sagt sie, "wenn wir ihn uns einfach zusammen ansehen würden?" Sie grinst mich breit an. "Glaub mir, der Film ist wirklich gut. Zwar alt, aber gut. Und philosophisch."
Philosophisch. Alles, was philosophisch ist, spricht mich an.
"Du magst Philosophie?", frage ich ungläubig. Ich mache große Augen.
Sie blickt mich fragend an.
"Ähm ... Ja? Warum denn nicht?"
"Naja, du ... Also, du hast auf mich gewirkt wie alle anderen ... Oberflächlich ... Als würde es dich nichts angehen, warum du hier bist. Hauptsache, du existierst und kannst Macht ausüben ..."
Man kann so etwas niemandem schonend beibringen.
Sie wollte es wissen. Was hätte ich denn sagen sollen? Vielleicht tut es weh, als oberflächlich abgetan zu werden.
Ich werde wahrscheinlich nie als oberflächlich abgetan. Ich werde wahrscheinlich nicht als irgendetwas bezeichnet. Ich bin halt einfach da, damit müssen die Leute um mich herum klar kommen, und sie tun es, indem sie mich ignorieren. Das ist zwar besser als früher, aber es schmerzt trotzdem.
Wie gesagt, ich bin einfach da, ohne Grund. Ich bin niemandem wichtig. Ich bin eher so 'ne Nebenwirkung des Lebens.
"Autsch." Das ist Hopes Antwort. Sie ringt sich ein gequältes Lächeln ab.
Ich habe sie verletzt. Natürlich. Was aus meinem Mund kommt, sticht. Es sind Messer. Mein über Jahre aufgebautes Abwehrsystem.
Mein Blick schießt regelrecht auf den Fußboden. "Entschuldigung!", sage ich, lauter als geplant. Und schrill.
"Schon gut", sagt sie leise.
Ich nicke, wenig erleichtert, und widme mich wieder meinem Kaffee. Ich trinke einen Schluck. Er ist ziemlich abgekühlt. Verdammt, wie lange sitzen wir denn schon hier rum?
Ich bemerke die Spannung, die sich langsam zwischen uns ausbreitet, und es gibt mir einen Stich ins Herz. Schon wieder habe ich jemanden verletzt, der mich vielleicht gemocht hat. Der sich jedenfalls irgendwie für mich interessiert hat. Ich bereue nicht, mein Abwehrsystem aufgebaut zu haben, es hat mir vielleicht schon sehr oft den Arsch gerettet, aber jetzt, in diesem Moment, stört es - es stört, was Hope versucht, aufzubauen.
Ich trinke noch einen großen Schluck, sammle Mut an. Dann schließlich sage ich zögernd: "Du wolltest von dir erzählen ... Du warst bei deinem Lieblingslied."
"Stimmt. Ja, mein Lieblingslied ist, was bei meiner Lieblingsband nicht verwunderlich ist, Come as you are, ein ziemlicher Klassiker." Sie summt die Melodie des Liedanfangs. Dann sieht sie mich an und lächelt. Sie lächelt mich tatsächlich an.
Ich nicke, erleichtert darüber, dass sie mir verziehen hat. "Come as you are ist ja auch toll. Das gefällt mir auch."
"So", sagt sie. "Jetzt du.""Okay, ähm...", stottere ich. Nervös spiele ich unter dem Tisch mit meinen Händen herum, pipele hier und da ein bisschen Nagel ab. Was kann ich ihr erzählen? Was nicht?
"Ich bin ... Ich bin Haley Franklin, geboren am 25. August 1998. Meine Eltern trennten sich, als ich 13 war." Nicht ganz gelogen, aber auch nicht die Wahrheit.
"Also, meine Mutter", ich kann den sarkastischen Ton beim Wort Mutter nicht ganz unterdrücken, "heißt Susan Franklin und mein Vater Glen Smith. Ich habe keine Geschwister. Meine Mutter und ich wohnen allein in einem Haus. Grandma, die mit in dem Haus gewohnt hat, ist vor sechs Jahren gestorben, da war ich beinahe 10 Jahre alt. Sie war immer super lieb zu mir und hat mir bei meinen Schulaufgaben geholfen, oder mir Lösungen für persönliche Probleme vorgeschlagen."
Beinahe kommen mir die Tränen, als ich von meiner Großmutter erzähle. Untersteh dich, schimpfe ich mit mir selbst.
"Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll", sage ich endlich, nachdem ich die Tränen heruntergeschluckt habe.
"Sag mir", sagt Hope, "schmeckt dir der Kaffee?"
Ich schlucke. Sehe sie an. Nicke.
"Natürlich", antworte ich.
Sie sieht auf ihre bereits geleerte Tasse hinunter, steht auf und gießt sich noch etwas ein. "Das freut mich."
Mit der Tasse in der linken Hand dreht sie sich zu mir um. Ihre Stirn ist in Falten gelegt. "Haley, lass mich dir sagen, dass dir hier nichts passieren kann. Du musst mir nicht antworten auf meine zugegeben sehr unsanfte Frage eben."Donnie Darko.
Ich greife erneut in die Tüte Chips, die Hope zwischen uns auf das rote Sofa gelegt hat. Wir beide starren ruhig und gespannt auf den kleinen Fernseher, der auf einem weißen, niedrigen Schrank steht.
"Wurmlöcher", murmele ich. "Das nenn ich mal Philosophie."
Ich spüre, wie sich das Sofa ganz leicht bewegt und weiß, dass Hope nickt. "Nicht wahr?", flüstert sie. "Der Film ist so toll."
"Absolut", erwidere ich, dann schweigen wir wieder.Mit Wurmlöchern meint der Film, dass jede Bewegung, die wir tun, schon durch sogenannte Wurmlöcher vorausgesagt ist. Diese ziehen uns sozusagen hinter sich her. Man mag meinen, dass es nur von uns und unseren Bedürfnissen abhängig ist, wohin wir gehen. Doch nein - vielleicht ist alles so vorhergesehen? Vielleicht gibt es kein Schicksal, sondern unser komplettes Leben steht schon irgendwo fest geschrieben.
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Hört ihr denn auf zu atmen?
RandomHaley, 16 Jahre alt, hat jeden Grund, depressiv zu sein. Sie sieht ganz und gar keinen Sinn in jeglicher Art von Leben (schon gar nicht von ihrem eigenen) und ritzt sich. Nach einem Selbstmordversuch will ihre gleichaltrige Mitschülerin Hope ihr zei...