Kapitel 2 - Narben auf den Pulsadern

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Ich saß in meinem Zimmer. Unten hörte ich meine Mutter und meinen Vater wieder streiten. Ich brauchte nicht genau hinzuhören, um zu wissen, dass es um mich ging. Dass meine Mutter nicht mit mir klarkam. Dass sie zu meinem Vater sagte, sie könne mich nicht länger allein erziehen, und dass mein Vater zu viel arbeitete. Ich hatte solche Streitereien schon oft genug mitbekommen. Deswegen kannte ich sie in- und auswendig. Es lief immer nach dem gleichen Prinzip ab: Mein Vater kam nach Hause, er sah, dass meine Mutter schon wieder betrunken war, er fragte sie, warum, und dann ging es ab, meine Mutter rastete aus, schrie, ich sei ihr zu viel, ich hätte zwei Leben zerstört, das von ihr und das meines Vaters, sie hätten doch so glücklich werden können, hätte, hätte, hätte.
Jetzt hielt ich es doch nicht mehr aus, ich wünschte mir, wie jedes Mal, dass es diesmal doch nicht um mich ging. Dass es ums Geld ging. Um Papiere. Um meine Mutter.
Aber am meisten wünschte ich mir Liebe.
Ich wünschte mir mütterliche Liebe, ich wollte abends mit meine Mutter zusammensitzen und ihr Geheimnisse erzählen oder was mich bedrückt. Ich wollte Interesse von ihrer Seite, wie es denn mit Jungs aussah oder Freunden.
Ich wünschte mir väterlichen Schutz, wenn jemand etwas Beschissenes tat oder sagte. Ich wollte, dass es jemanden interessierte, wie es in der Schule lief, ich wollte einfach nur ein normales Kind mit einer normalen Familie sein.
Ich ging an die Tür und hörte meine Mutter noch lallen:
"...aber nein, der Herr wollte das Kind ja nicht weggeben oder sogar abtreiben lassen. 'Erstmal schauen, wie's wird', hatter gesagt, 'vielleicht wird's doch nicht so schlimm, wie du denkst', hatter gesagt. Jetzt haben wir den Salat, Glen! Ich hasse dich dafür! Und ich werde es dir niemals verzeihen!"
Dann hörte ich einen dumpfen Schlag. Als ich durch den Türspalt lugte, erhaschte ich einen Blick auf meine Mutter, die zusammengekrümmt auf dem Boden, mit dem Kopf an der Heizung lag, und auf meinen Vater, dessen Faust noch in der Luft schwebte. Als ich bemerkte, dass er mich anstarrte - wohlgemerkt nicht mit einem Blick, als würde er mich gleich zu einem Eis einladen - knallte ich die Tür zu und rannte so schnell es ging in mein Zimmer zurück. Dort angekommen verriegelte ich die Tür doppelt und stellte noch einen Stuhl unter die Klinke.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und weinte, ich weinte so stark. Bis ich einfach nur noch Hass und Wut auf mich selbst empfand.
Ich holte das Messer unter meiner Matratze hervor.
Es lag dort schon seit ein paar Tagen, da ich den Wunsch schon öfter, und jedes Mal stärker empfunden hatte. Und jetzt war es soweit.
Ich krempelte meinen Ärmel hoch und setzte das Messer an.
Dann schnitt ich. Es tat weh, doch ich merkte, dass es den Schmerz in mir drin für den Moment ausschaltete. Also schnitt ich nochmal.

Ich habe mit dem Schneiden angefangen, als ich 12 war.

Hört ihr denn auf zu atmen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt