❅ Kapitel 10 ❅

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„𝐀𝐥𝐥𝐞𝐬 𝐰𝐚𝐬 𝐝𝐮 𝐰𝐢𝐥𝐥𝐬𝐭, 𝐢𝐬𝐭 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐞𝐫 𝐚𝐧𝐝𝐞𝐫𝐞𝐧 𝐒𝐞𝐢𝐭𝐞 𝐝𝐞𝐫 𝐀𝐧𝐠𝐬𝐭."
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Als die Sonne aufging, machte sich Nick sofort auf die Suche. Wild blieb diesmal in der Höhle, da es draußen zu hell für ihn war. Trotz der gründlichen Suche konnte Nick die Schuhabdrücke, die er gestern noch gesehen hatte, nicht finden. Er guckte überall nach: in der Nähe der Quelle, der Feroxenhöhle, bei den Brombeergebüschen. Doch die Spuren waren weg. Wo waren sie bloß? Dann erinnerte er sich plötzlich, dass es nachts stark geregnet hat. Hat das Wasser die Spuren weggewischt? Enttäuscht und genervt setzte sich Nick auf die nasse Erde und versuchte sich rasch noch was einfallen zu lassen. Erfolgslos. Nick schluchzte. Das war's. Er hatte eine Chance, doch die hatte er verspielt. Warum war er bloß nicht gestern einfach den Spuren direkt gefolgt trotz der Dunkelheit, trotz der Angst vor Feroxen? Auch wenn sie ihn erwischt hätten, hätte er sich besser gefühlt als jetzt, nicht wie ein Versager. Und vielleicht sogar nicht wie ein Hase. Und wenn sie ihn dann umgebracht hätten ... wäre das auch besser gewesen. Manchmal, da ist der Tod eine Befreiung.
Doch jetzt war es schon zu spät.
„Vielleicht kann mir Isianger helfen?", fragte sich Nick, doch dann erinnerte er sich, dass Isianger ihn nur dorthin bringen kann, wo er selber schon mal war. Doch war er da, wo jetzt die Menschen waren? Wusste er ganz genau, wo sich ihr Lager befand? Nein. Große, nasse Tropfen liefen Nick über die Wangen. Sie rollten ihm über das Kinn und über den Hals, tropften auf sein Hemd. Er weinte. Er weinte das erste Mal. Noch nie hatte er es gewagt: nicht als er den ersten Tag alleine im Dornwald gewesen war, nicht als er die Überreste von seinem Dorf, seinem Zuhause gesehen hatte, nicht als er jede Nacht vor Angst vor Feroxen gezittert hatte, nicht als er diesen begegnet war. Noch nie. Doch jetzt tat er es schon. Wenn es sein Vater gewusst hätte, hätte er sich für ihn geschämt und mal wieder gesagt, dass es peinlich für einen Mann war, zu heulen. Doch hier, im Wald, war das egal. Hier gab es niemanden, der ihn hören konnte, keine Menschen und schon gar nicht seinen Vater. Und trotzdem wurde es ihm peinlich. Peinlich für sich selbst. Er hat wirklich gedacht, er würde Menschen finden? Menschen im Dornwald?
Überlebende? Wie dumm! Vielleicht war er nur verrückt geworden, dass er sich irgendwelche Spuren eingebildet hatte. Wie abscheulich! Dabei hat er ja nur Sicherheit gewollt. Sicherheit für sich selbst und für Wild. Wild ... plötzlich dachte Nick an ihn. Hat Wild denn so ein Leben verdient? Nein, er verdiente ein besseres Leben, dies wusste Nick ganz sicher. Und er verdiente mehr als Nick ihm geben konnte. Wild tat Nick leid. Er wusste, dass er Schuld war, an dem wie Wild jetzt leben musste. Er hat ihm seine Mutter genommen. Nick kam sich selbst albern und klein vor. Wer war er damals gewesen? Ein Junge, der Rache gewollt hat, mehr war er nicht gewesen. War er denn jetzt mehr als das? Wieder war Nick alleine mit seinen Gedanken. Wieder war er verloren in ihnen. Wieder mal.
Nick ging zur Wasserquelle. Da angekommen, wischte er sich die Tränen vom Gesicht. An der Wasseroberfläche sah er sich kurz an. Seine Augen waren rot vor Tränen, seine Haut blass, seine Haare dreckig und zerzaust. Er erschreckte sich vor sich selbst. Er sah aus wie ein Monster. Wie ein Obdachloser. Aber Nick wusste, dass es wirklich stimmte — er war so. Alleine. Ohne Zuhause.
Und wieder liefen ihm die Tränen runter. Es waren so viele, dass Nick dachte, sie hatten sich von seinem ganzen Leben versammelt und kamen jetzt alle auf einmal raus. Er wusste nicht, wie viel Zeit es vergangen war, er heulte immer noch.
„Nick! Nick! Mein Junge! Nick! Bist du es?", rief jemand nach ihm. Nick erstarrte. Er wischte sich schnell mit der Hand über die Wange und drehte sich zu der Stimme um. Vor ihm stand sein Vater.

Ein FeroxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt