Kapitel 2 - Cailan

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Ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass ich tatsächlich in New York bin. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meine Heimat Schottland verlassen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in ein Flugzeug gestiegen. Und warum? Weil mir zum ersten Mal in meinem Leben mein Herz gebrochen wurde. Das ist der Grund, wieso ich möglichst weit weg von dem Schmerz sein will, der zu Hause auf mich wartet. Allerdings hat sich soeben die Aussicht auf ein Heilmittel ergeben. Ben. Einfach nur Ben. So hat er sich vorgestellt. Einfach nur Ben. Einfach nur WOW, denke ich beim Anblick seines muskulösen Oberkörpers, der in ein enganliegendes, schwarzes Hemd gehüllt ist. Starke Arme, in die ich mich liebend gerne stürzen möchte. Dieser Kerl hat mich so offensichtlich abgecheckt, dass direkt meine Fantasie mit mir durchgeht. Ich stelle mir vor, wie es sich wohl anfühlen würde, einen Mann mit Bart zu küssen – denn das habe ich zuvor noch nie getan. Wie sich seine Lippen warm und weich auf meine legen. Wie er schmeckt. Und so wie es aussieht, ist Ben dem nicht abgeneigt. Sowohl mein anfänglicher Trübsinn als auch mein Jetlag – der mir bis eben noch in den Knochen steckte – sind schlagartig weggefegt, als dieser gutaussehende Schrank von einem Mann mir zuzwinkert und sich von der Bar entfernt.
Zwar habe ich nicht damit gerechnet, so schnell jemanden wie Ben kennenzulernen, aber ich bin ja schließlich nicht nur zum Arbeiten hier. In erster Linie will ich vergessen, und was würde sich da besser eignen als ein bisschen Spaß mit einem heißen Türsteher.
»Cailan? Kannst du mir bitte helfen und zwei Moscow Mule mixen? Und wenn du fertig bist, die drei Herren dort drüben brauchen deine Entscheidungshilfe bei den Whiskys. Da bist du als Schotte ja wohl unser Spezialist, oder?« Ashley, meine Kollegin, schenkt mir ein Lächeln und schiebt mir zwei Kupfertassen für die Cocktails hinüber.
»Danke«, murmle ich und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen.
»Ihr habt euch gegenseitig ganz schön den Kopf verdreht, hm?«, sagt Ashley, während sie den Inhalt ihres Shakers in ein Glas füllt. Ohne dass ich es verhindern kann, spüre ich, wie sich meine Mundwinkel nach oben bewegen. Einfach nur Ben ist zumindest eine wunderbare Ablenkung. Ich antworte Ashley nicht, sondern grinse weiter in mich hinein, während ich nach der Wodkaflasche greife. »Cailan!«, zischt meine Kollegin, »erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Ihr Blick liegt mahnend auf mir. Ups. In meiner Hand halte ich Rum statt Wodka. Ablenkung. Sag ich doch.
»Sorry, Ash.« Besser ich konzentriere mich doch auf meine Arbeit, auch wenn mir das gerade nicht sonderlich leichtfällt. Bens imposante Erscheinung verdeckt hervorragend meine innere Sicht auf den Teufel mit den eisblauen Augen, der in Edinburgh mein Herz in Brand gesteckt hat. Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und schaffe es schließlich, die Cocktails mit den richtigen Zutaten zu mixen. Schnell finde ich wieder in meine übliche Routine hinein und genieße diese irre Location. Das Unicorn – der Club, in dem ich neben meinem Studium in Edinburgh arbeite – ist schon der angesagteste in der Stadt, aber das (W)Right Place ist nochmal eine ganz andere Nummer. Es gibt hier Räumlichkeiten für wirklich jegliches Vergnügen und ich würde zu gerne eine Tour durch das ganze Haus machen. Leider kam mein Flieger erst super knapp an, da diese ganze Aktion hier ziemlich spontan war und einer Flucht gleichkam, aber ich genieße die Atmosphäre der Rooftop-Bar sehr. Sie hat einen großflächigen Freisitz und gewährt einen wunderbaren Blick in den Himmel und das umliegende Häusermeer.
Die Bar ist mit dunklem Leder, viel Glas und edlem Holz ausgestattet und zaubert ein sehr stilvolles und luxuriöses Ambiente. Das spiegelt sich auch in der Qualität der Getränke wider. So manche Flasche kostet ein kleines Vermögen. Passend zur noblen Einrichtung ist auch das Publikum gekleidet. Prunk und Glamour, wohin das Auge reicht. Ich bin gespannt, ob sich hier irgendwelche Stars oder Sternchen tummeln. Mein Gott, Marissa – meine beste Freundin zu Hause in Edinburgh – wird ausflippen, wenn ich ihr hiervon erzähle. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt hinter der Bar stehe, weil sie meinte, ich hätte es nötiger, eine Auszeit zu nehmen als sie. Denn eigentlich wäre es ihr Job gewesen. Und dafür liebe ich sie.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Die Sterne am New Yorker Nachthimmel werden von den vielen Lichtern, die girlandenförmig quer über den nicht überdachten Bereich der Bar gespannt sind, untermalt. Es herrscht ein reges Treiben und immer, wenn der Moment es erlaubt, huscht mein Blick durch die Menge auf der Suche nach Ben. Aber außer zwei gestohlenen Lächeln und einem Zwinkern ist bis jetzt nichts passiert. Wir sind beide zu beschäftigt. Leider.
Gerade als ich zwei Anzugträgern ein neues Geschmackserlebnis offeriere, indem ich ihnen ausrede, einen 1000$ Single Malt nicht auf Eis aus einem Tumbler zu trinken, tritt Ashley an mich heran.
»Du kannst, wenn du hier fertig bist, Pause machen. Eine halbe Stunde. Nicht länger.« So wie sie erst mich ansieht und dann ihren Blick zu Ben schickt, der mit dem Rücken zu uns ganz in der Nähe steht, weiß ich, dass sie meinem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen will.
»Danke. Ich bin pünktlich wieder hier. Versprochen.«
»Carpe diem. Oder besser, carpe noctem«, raunt mir meine Arbeitskollegin, die ich in den paar Stunden, die ich sie nun kenne, direkt ins Herz geschlossen habe, mit einem vielsagenden Schmunzeln zu. Ich wünsche den beiden Gentlemen einen schönen restlichen Abend und ernte überschwänglichen Dank für meine Whisky-Empfehlung. Im Stillen denke ich nur: ihr Banausen. Wie kann man bitte so ein feines Tröpfchen mit Eis verhunzen!
Im nächsten Moment eile ich hinter der Bar hervor und steuere auf Ben zu.
»Hey, mein Großer«, raune ich ihm ins Ohr, während ich von hinten an ihn herantrete. »Was meinst du, können die hier«, ich deute auf die Menge, »kurz auf dich verzichten? Ich habe dreißig Minuten Pause, die ich ungern alleine verbringen möchte.« Da niemand auf uns achtet, lasse ich für einen flüchtigen Augenblick meine Hand über seinen Hintern gleiten. Nur ganz kurz und doch reicht es aus, um seinen Körper unter Strom zu setzen. Und meinen. Ich kann Bens Blick nicht sehen, aber ich habe die Spannung vernommen, die ihn eben durchzuckt hat. Er spricht leise etwas in sein Mikrofon und dreht sich in der nächsten Sekunde zu mir um. In der Dunkelheit, die hier herrscht, kann ich die Farbe seiner Augen nicht genau erkennen, aber ich sehe den Hunger, der darin lauert. Es wird Zeit für einen Snack, denke ich und lecke mir über meine Lippen. Zu dem Hunger gesellt sich ein Feuer dazu.
»Gehen wir«, ist alles, was er mir entgegenbrummt. Und schon verlassen wir die Rooftop-Bar. Auf dem Weg nach unten überlege ich, wo wir ungestört sein könnten. Der offizielle Pausen- und Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter scheidet aus, ebenso die Toiletten. Wenn ich schon einmal in so einem Club wie diesem bin ...
»Wo willst du hin?«, fragt mich Ben und das Kratzen in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Gott, es fährt mir direkt in den Schwanz.
»Ich habe gehört, hier gibt es Darkrooms. Leider habe ich sie nicht zu Gesicht bekommen, aber ich würde mir zu gerne ein Bild davon machen.«
»Okay, dann komm.« Jep, genau das habe ich vor. Kommen. Ich will kommen. Und wieder diese Stimme, die mir eine Gänsehaut beschert, trotz der feucht-schwülen Luft, die mit allerlei Düften getränkt ist. Einer sticht dabei besonders hervor. Bens holzig-herbe Note nach frischem Wald, die mir seit eben in der Nase hängt und wie ein Aphrodisiakum wirkt. Wir erreichen einen Gang, der mit roten Stoffbahnen gesäumt ist. Hinter einem der Vorhänge stolpert ein Trio hervor. Ein Mann mit zwei Frauen im Arm, denen er abwechselnd die Zunge in den Rachen schiebt. Der Geruch von Sex hängt ihnen an, als wir vorbeigehen und auch, wenn es mir nichts gibt, Frauen dabei zuzusehen, törnt mich die Aussicht auf das, was gleich mit Ben passieren könnte, immens an.
»Hier ist frei«, raunt mir Ben zu und ohne weiter nachzudenken, greife ich seine Hand und ziehe ihn mit mir in den Dark Room, der mit atmosphärischem roten Licht nur dezent und indirekt beleuchtet ist. Bens Finger sind groß, rau und kräftig. Ich kann es kaum erwarten, wenn er sie gleich auf Wanderschaft schickt. Mich berührt und festhält und verwöhnt.
Hinter uns fällt die Tür mit einem Klicken ins Schloss und im nächsten Moment kracht mein Rücken gegen eben diese und Bens Lippen auf meine. Sein Bart ist weicher, als ich ihn mir auf meiner Haut vorgestellt habe. Und seine Lippen zärtlicher, aber seine Zunge ist wild und gierig. Ein Keuchen strömt aus meiner Kehle direkt in seinen Mund. Er schmeckt nach Pfefferminz. Hm. Genüsslich recke ich ihm nicht nur meine Zunge entgegen, sondern auch mein Becken. Ich spüre seine Erektion an meiner, und das lässt mich gleich noch härter werden. Ein Knurren steigt aus Bens Brustkorb empor und bringt ihn zum Vibrieren, als ich meine Hände in seinem extrem knackigen Arsch vergrabe und ihn noch näher an mich ziehe.
Für einen Augenblick bleibt die Welt stehen und ich – nein, wir – verlieren uns in diesem Kuss. Unsere Lippen und Zungen fechten einen stürmischen Kampf aus, in dem es weder Sieger noch Verlierer gibt, unsere Leiber kollidieren und reiben sich hemmungslos aneinander. Und dann lasse ich los.
Das Aroma von frisch gehacktem Nadelholz umspielt meine Sinneszellen und trägt mich davon. Plötzlich bin ich nicht mehr im Großstadtdschungel New Yorks, sondern in den Wäldern Schottlands. Ich rieche die raue Natur meiner Heimat, und mit den Gedanken an zu Hause nimmt das Gesicht des Mannes, dem mein Herz gehört, Gestalt vor meinem inneren Auge an. Fuck! So sehr ich mir auch wünsche, das hier zu wollen, mich Ben vollkommen hinzugeben, mit ihm ein kleines Abenteuer zu erleben, um meinem Schmerz zu entfliehen. Es will mir nicht gelingen. Es fühlt sich nicht richtig an. Den schwermütigen Seufzer, der mir im Hals steckt, schaffe ich kaum hinunterzuwürgen. Im gleichen Moment, als ich Ben sacht von mir schieben will, weicht er zurück. Der Hunger ist aus seinen Augen gewichen, genau wie aus meinen. Stattdessen sieht er mich entschuldigend an und ich komme mir vor, als würde ich in mein bärtiges Spiegelbild blicken.
»Es liegt nicht an dir«, sagt Ben zur gleichen Zeit als ich »es tut mir leid« flüstere. Das bringt uns beide zum Schmunzeln, bis es schließlich in ein befreiendes Lachen übergeht.
»Hast du dein Herz auch an jemanden verloren?«, fragt mich Ben und geht auf das kreisrunde, mit dunklen Laken bezogene, Bett zu, um sich zu setzen. Mit seiner flachen Hand klopft er neben sich. »Wir haben ein paar Minuten Zeit, um zu reden. So brauchen wir nicht zurück in die Bar.« Er deutet erst auf seinen, dann auf meinen Schritt. Beide mächtig ausgebeult.
»Stimmt«, antworte ich lächelnd und nehme neben ihm Platz. »Sein Name ist Angus und es ist kompliziert«, fange ich an zu erzählen. Ben und ich quatschen, bis unsere Schwänze auch schnallen, dass heute nichts mehr laufen wird. Schnell stellen wir fest, dass wir beide auch ohne sexuelle Aktivitäten auf einer Wellenlänge sind, und es tut nicht nur mir gut, mit jemandem den Schmerz zu teilen. Auch Bens Seele trägt Wunden, die nicht wirklich heilen wollen.
Die Pause ist vorbei und wir müssen zurück in die Bar, um weiterzuarbeiten. Ich trauere dem missglückten Sex-Abenteuer nicht hinterher, stattdessen bin ich dankbar, dass ich einen neuen Freund gefunden habe.

geschrieben von Charlotte Macallan für die Kurzgeschichte (W)Right Place

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