Kapitel 1 - Ben

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Was hat sich Tyler nur dabei gedacht?
Vor ein paar Tagen kam er zu mir und meinte, ich müsste ihm einen großen Gefallen tun. Schon allein sein Gesichtsausdruck hätte mir sagen müssen, dass nichts Gutes dabei rauskommen kann. Und verdammt, wie recht ich hatte, bemerke ich jetzt. Andererseits bin ich froh über die Verschnaufpause vom Alltag, auch wenn es fast schon weh tut, diese Distanz zu James. Mein kleines, dummes Herz sehnt sich nach etwas, das unerreichbar ist.
Umzingelt von anderen stämmigen Männern stehe ich im Außenbereich und höre einem bulligen Securitytypen zu, wie er uns einweist und mit uns den Abend bespricht. Die Techniker machen währenddessen ihren letzten Sound- und Lichtcheck. Selbst bis hier hinaus dringen die Bässe und ich muss meine Füße davon abhalten, im Takt mitzuwippen. Mein Blick schweift über das Stahlgeländer durch die Nacht und bewundernd betrachte ich die funkelnden Lichter New Yorks. Ich bin nicht der Typ für Großstädte, doch selbst ich kann mich dem faszinierenden Anblick nicht entziehen. Es ist ein wahres Lichtermeer. Doch der Außenbereich hier ist auch nicht zu verachten. Dünne Drahtseile sind von der einen zur anderen Seite gespannt und mit Lichterketten in Form von Sternen verziert. Eine Hälfte der Terrasse ist mit Holzbalken versehen und dient als Unterstand. Überall verteilt sind Sitzgelegenheiten aufgestellt und ... verdammt, müsste ich nicht arbeiten, würde ich es mir glatt auf einem der gepolsterten Stühle bequem machen und einfach den Abend genießen.
Auf einmal steht der Sicherheitschef vor mir und reicht mir, wie auch den anderen, einen kleinen Knopf, den wir uns ins Ohr stecken, um miteinander verbunden zu sein. Außerdem bekommen wir noch jeder ein kleines Mikrofon, das ich am Kragen meines schwarzen Hemdes anbringe. Nachdem alle ausgestattet sind und er uns erklärt, wie das Mikrofon an- und ausgeschaltet wird, verteilt er uns auf die Bereiche des Clubs. Natürlich bekomme ich den Rooftop-Bar Bereich zugewiesen. Ich Glückspilz. Nicht. Verdammt! Hätte er mich nicht an den Eingang stellen können? Selbst im Ares Secrets stehe ich lieber vor der Tür. Nein, stattdessen muss ich hier drinnen nach dem Rechten schauen und aufpassen, dass sich ja keiner danebenbenimmt. Für einen Abend wird es schon passen, spreche ich mir in Gedanken gut zu. Was soll schon passieren? Es ist eine exklusive Cluberöffnung. Mit Sicherheit weiß sich hier jeder zu benehmen.
Nachdem alles geregelt und besprochen ist, löst sich die Gruppe auf. Ich setze mich in Bewegung, betrete das Innere und steuere die Bar an. Sofort pulsieren die Bässe durch meinen Körper und die Musik trägt ihr Übriges dazu bei, dass sich meine Laune hebt. Die Einrichtung ist elegant und stilvoll, das muss man dem Besitzer lassen. Ein Auge fürs Detail hat er. Hinter dem runden Tresen, an dem ringsherum hohe Hocker stehen, sind schon einige Barkeeper dabei, alles vorzubereiten. Einer von ihnen sticht mir besonders durch seine fast schon weißen Haare ins Auge. Mit seiner schmalen, großen Gestalt wirkt er nicht ganz so verloren hinter der Bar wie die rothaarige Frau neben ihm. Geschickt schneidet er Zitronen in Scheiben und befüllt damit den vorgesehenen Behälter. Als würde er meine Blicke spüren, hebt er seinen Kopf und blickt mich mit seinen dunkelblauen Augen an. Ich schlucke. Verdammt, der Kerl ist ein wahres Prachtstück. Sein kantiges Kinn, seine maskulinen Gesichtszüge und seine vollen Lippen ziehen mich magisch an. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht und ich merke erst jetzt, wie intensiv ich ihn angestarrt habe. Ich will meinen Blick abwenden, um nicht wie ein Trottel dazustehen, aber seine klare Stimme hält mich davon ab.
»Sag mal, checkst du unser Sortiment ab oder mich?«, fragt er mich mit schief gelegtem Kopf und grinst verschmitzt. In seiner Stimme schwingt ein schottischer Akzent mit.
Überrumpelt von seiner Frage stehe ich nun doch da wie der letzte Idiot. »Ähm ...«
»Ach komm schon, Großer, sei nicht so schüchtern. Tritt einen Schritt näher und ich zeig dir mehr davon«, zwinkert er mir zu. Von den Flaschen, die das Licht reflektieren, oder von ihm? Verdammt. Wird es auf einmal heißer hier drinnen oder ist es seine Ausstrahlung, die mir einheizt?
Ich räuspere mich, schlage mir innerlich auf die Stirn und straffe die Schultern.
»Bevor du mir irgendetwas zeigst, könntest du mir deinen Namen verraten.« Meine Mundwinkel ziehen sich leicht in die Höhe.
Ich sollte den Abend nutzen. Der Einlass hat noch nicht begonnen und die Vorbereitungen sind in den letzten Zügen. Also bleibt noch ein bisschen Zeit für das Vergnügen. Obwohl ich mich besser mit dem Club vertraut machen sollte, reizt mich der junge Mann gerade mehr als irgendwelche Räume. Und außerdem bin ich weit weg von meinem Zuhause. Niemand kennt mich. Ich sollte die Anonymität zu meinen Gunsten nutzen und verflucht noch einmal Spaß haben. Natürlich ohne den Blick fürs Wesentliche zu verlieren. Doch ich weiß schon jetzt, dass es mir schwerfallen wird.
»Aber nur, weil du mich so charmant darum bittest.« Sein ganzes Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen. »Cailan Abercrombie. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ben. Einfach nur Ben.« Ich lehne mich mit meinen Unterarmen auf den Tresen und beuge mich näher an ihn heran. »Dein Nachname bestätigt meine Annahme, dass du Schotte bist. Was machst du hier, so weit weg von deiner Heimat?«
»Sehr gut erkannt, Sherlock. Brauchte eine Auszeit.« Er zuckt mit den Schultern und plötzlich scheinen die Zitronen interessanter zu sein als ich.
»Hey, Cailan!«, verlange ich seine Aufmerksamkeit zurück. Er hebt den Kopf und das Grinsen auf seinen Lippen scheint schief zu hängen. »Befrei deinen Kopf von den Lasten des Lebens und genieße deine Zeit hier. Und jetzt zieh nicht so ein Gesicht, als hättest du in eine Zitrone gebissen, statt sie zu schneiden. Lassen wir die schweren Themen heute ruhen und konzentrieren uns auf das, was sein könnte.« Meine Worte erzielen den richtigen Effekt und seine Miene erhellt sich schlagartig. Verschwunden ist die Trübsal. Hervor sticht wieder der junge Mann mit dem atemberaubenden Lächeln.
»Okay. Deal. Was könnte denn heute Abend passieren?« Wow, das nenne ich mal einen Launenumschwung. Ich beuge mich noch ein Stück näher zu ihm und hoffe, er hört meine geflüsterten Worte.
»Alles, was du willst.« Ich verstehe selbst nicht, warum ich auf einmal so offen flirte. Inmitten so vieler Menschen. Normalerweise gebe ich nicht allzu viel von mir preis, zu tief sitzen die Wunden der Vergangenheit, doch hier und heute kann ich verdammt nochmal sein, wer ich will.
»Ist das ein Angebot?«, fragt er mich mit rauer Stimme, die mir durch Mark und Bein geht. Auch er kommt mir näher und unsere Gesichter sind nur noch ein winziges Stück voneinander entfernt. Seine blauen Augen brennen sich in meine und ich habe das Gefühl, seinen Atem auf meiner Haut zu spüren.
»Finde es heraus.« Es fehlt nur noch ein Lufthauch und unsere Münder würden sich berühren. Fuck, wie sehr ich mich gerade nach Nähe sehne, bekomme ich jetzt mit voller Wucht zu spüren.
Bevor es aber so weit kommt, unterbricht uns ein klatschendes Geräusch.
»Verdammt, Jungs. Auch wenn es eine Schande ist, euch unterbrechen zu müssen, solltet ihr euch an die Arbeit machen. Ihr werdet schon beobachtet, und es ist nicht die gute Art von Blicken.« Die rothaarige Barkeeperin hat in die Hände geklatscht und somit unseren intensiven Blickkontakt unterbrochen. Sie zeigt mit einer schnellen Handbewegung zur Seite und ich folge ihr mit meinen Augen. Luis, der uns gerade erst eingewiesen hat, erdolcht mich mit seinem scharfen Blick.
»Ich glaube, wir sollten erst einmal arbeiten, aber wie heißt es so schön? Der Abend ist noch jung.« Ich ziehe mich mit einem Zwinkern von ihm zurück, worauf er sich lasziv auf die Lippe beißt. Kleine Stromschläge pulsieren über meine Haut und ich sehe zu, dass ich mich von der Bar entferne und auf Position bringe. Nicht, dass ich noch etwas mache, das den heutigen Job gefährdet.
Immer mehr Menschen finden sich im Club ein und feiern ausgelassen, doch anstatt mich darauf zu konzentrieren, schweift mein Blick immer wieder zu Cailan an die Bar und ich beobachte ihn, wie er Cocktails mixt und Gäste bedient. Er bewegt sich locker, leicht und doch zielstrebig, dabei lacht er so vergnügt, dass seine Laune ansteckend ist. Die kleinen, funkelnden Lichter, die an der Decke angebracht sind, verleihen seinem Haar ein Schimmern, das meine Augen immer wieder zu ihm gleiten lässt. Ein Blick reicht, um zu wissen, dass es nicht das letzte Mal war, dass wir uns so nahe kommen wie an der Bar vorhin.

geschrieben von Mariella Leone für die Kurzgeschichte (W)Right Place

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