Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach

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Vor einiger Zeit hatte ich Jans Umarmung mal als seltsam bezeichnet. Ungeschickt, unbeholfen und ein wenig spinnenartig. So stellte ich sie mir zumindest vor. Die Umarmung einer Spinne. Aber ich bin ehrlich: Ich hatte dieses Gefühl vermisst. Angesichts dessen umarmte ich ihn so fest ich konnte.
„Es ist viel zu lange her."
„Kommt davon, wenn man so viel beschäftigt ist."
„Du bist viel öfter in Berlin, als ich in Köln. Also bist du am Drücker."
„Na klar. Schieb es ruhig mir in die Schuhe! Typisch!"
Lachend schob ich ihn von mir und blickte zu ihm hoch. Viel zu weit hoch. Wieso suchte ich mir eigentlich immer diese riesigen Kerle aus? Die meisten meiner Freunde überragten mich um eine Kopflänge. Ich hatte eindeutig einen Typ.
„Was treibt dich dieses Mal her?"
„Die Arbeit natürlich. Vielleicht ein wenig Spionage. Hab' gehört, in der Stadt wird eine mittelmäßige Late-Night-Show aufgezeichnet", sagte Jan grinsend, während wir uns setzten.
„Mittelmäßig? Der arme Frank Plasberg. Spricht man so über die Konkurrenz von der ARD?"
„Touché."
Wir bestellten uns was zu trinken. Jan blieb natürlich bei etwas Alkoholfreiem, derweil ich mir ein Bier gönnte. In dieser Hinsicht hatte er sich nicht geändert. Schon immer hatte er vom Alkohol eher Abstand gehalten im Gegensatz zu Joko... Halt stopp! Jetzt drängte der Kerl sich schon wieder in meine Gedanken. Ich wollte doch heute Abend mal nicht an ihn denken. Eine jokofreie Zone sozusagen errichten. Ich wollte mich auf Jan konzentrieren. Wir sahen uns tatsächlich viel zu selten.
„Was macht die Familie? Hält Tatjana das Zuhause mit den Dreien alleine aus?", fragte ich ihn, nachdem der Kellner unsere Bestellung aufgenommen hatte.
„Sehr gut sogar. Die Kleine kommt bald in den Kindergarten und wird immer selbstständiger. Unfassbar, was das für ein Unterschied zu den Jungs ist."
„Den wirst du noch schneller merken, wenn der erste Freund ins Haus kommt."
„Erspar mir den Gedanken! Bis dahin hab' ich die Jungs so weit, dass sie jeden abschrecken, der ihr zu nahe kommt."
„Für so konservativ hätte ich dich gar nicht gehalten."
„Glaub's ruhig. Der Papa macht hier immer noch die Regeln."
Und war das nicht das Unglaublichste an der Geschichte? Jan war Vater, hatte die Verantwortung für drei kleine Wesen übernommen und formte sie auf ihrem Weg in die Gesellschaft. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht? Jan dabei zu beobachten, wie er von seiner Familie erzählte, machte mich fast ein wenig neidisch.
Diese Zusammengehörigkeit. Die Beständigkeit. War es nicht das, was man in unserem Alter wollte? Wenn ich im Gegensatz dazu mein eigenes Drama sah, fühlte ich mich nicht halb so erwachsen, wie ich eigentlich sein sollte. Aber das lag vermutlich auch an meinem Beruf und den albernen Dingen, die dazu gehörten. Jan hatte da andere Schlachten zu schlagen.
Schlachten, die ihn schnell ergrauten und jedes andere Problem in den Hintergrund stellten.
Die Zeit nach der Staatsaffäre war eine grauenhafte Zeit gewesen. Nicht nur für ihn und seine Familie. Ich hatte mitgelitten, weil ich an jedem neuen Tag davon ausgehen musste, dass das unaussprechliche passiert war. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich war, als es vorbei war. Als der erlösende Anruf von Jan kam und er das Schlimmste überstanden hatte.
Ich musterte ihn, während er weitere Geschichten aus dem Alltag mit den Kids erzählte und wir uns über die Arbeit austauschten. Er sah erholt aus. Irgendwie angekommen und auf jeden Fall glücklich. Ich freute mich für ihn, aber eine gewisse Wehmut konnte ich nicht leugnen.
Sie merken natürlich, dass ich nur versuche abzulenken. Dann drücken wir doch mal auf die Pausentaste und ich lege die Karten offen auf den Tisch. Darauf warten Sie doch schon sehnsüchtig, oder? Sie sind doch schon ganz neugierig, was Joko da vorhin gemeint hat mit Vergangenheit und seinen dummen Anschuldigungen. Ich seh' es Ihnen doch an.
Also gut. Bereit? Jan und ich hatten was miteinander.
Tada! Da haben Sie es. Jetzt ist es raus. Aber das haben Sie doch schon vermutet, nicht wahr?
Wir waren jung. Wir lagen auf einer Wellenlänge. Wir waren auf Tour. Es funkte einfach zwischen uns. Wir waren kein Paar, aber wir probierten vieles aus. Die Chemie zwischen uns war nicht zu übersehen und das bemerkte auch Joko. So hatte er damals von meiner Vorliebe für Männer erfahren. Aber dass es ausgerechnet Jan war, hatte ihn immer schon gestört. Schon lange, bevor das mit uns überhaupt eine Option für ihn war. Ich lud Jan zu MTV Home ein. Zu NeoParadise. Jedes Mal endete es in einer Katastrophe. Die beiden wurden einfach nicht warm miteinander.
Aber als Jan dann seine Frau traf, war die Sache mit uns vorbei. Ich lenkte mich danach von Joko mit Doris ab, bis wir unseren Kram endlich auf die Reihe bekamen und ein Paar wurden. Jan liebte es nach wie vor Joko zu ärgern und der wurde in den folgenden Jahren zu einem knurrenden Höhlenmenschen, wenn ich mich mit Jan traf. So wie heute Abend. Er war nach wie vor ein rotes Tuch für Joko. Vielleicht konnte ich das dieses Mal ja zu meinem Vorteil nutzen.
Die Zeit flog nur so dahin, wenn ich mit ihm zusammen war. Wir redeten und redeten. Die Themen gingen uns selten aus. Auch ein Grund, warum ich so gerne mit ihm zusammen war. Wir lagen auf einer Wellenlänge. In jeglicher Hinsicht. Es fühlte sich gut an. So war es schon spät und wir waren beim Desert angekommen, als Jans Neugier es scheinbar nicht mehr aushielt.
„Aber genug um den heißen Brei herumgeredet. Erzähl mir, was das Singleleben macht!"
Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn abschätzend an.
„Olli hat gequatscht."
„Natürlich hat Olli gequatscht", antwortete er lachend und zog an seinem Strohhalm.
„Ihr seid solche Tratschtanten. Der Podcast tut euch nicht gut."
„Und ob. Solltest du auch mal versuchen. Hält die Beziehung am Laufen."
„Da sehe ich kein Problem bei euch. Das Material scheint euch ja nie auszugehen. Obwohl offensichtlich schon, wenn mein Leben Thema bei euch ist."
„Jetzt lenk mal hier nicht ab. Ich will den Klatsch und Tratsch aus erster Hand erfahren. Was ist da los bei euch?"
Ich seufzte. Das wars mit meinem dramafreien Abend. Wenn Jan erst einmal die Fährte aufgenommen hatte, konnte ihn nichts mehr davon ablenken. Musste die Nachwirkung des Journalismusstudiums sein. Jeder Spur musste er nachgehen. Ich versuchte gar nicht erst mich rauszuwinden, sondern erzählte ihm von dem Trauerspiel.
„Du weißt, ich fand die Idee immer schon bescheuert. Da hat Olli ganz recht. Keine Ahnung, was du dir dabei gedacht hast."
„Das ist bei dir hängen geblieben?"
„Joko hatte also was mit dem Lundt. Tja, mein Freund. So ist das, wenn man sein altes Spielzeug beiseite legt. Dann spielt eben jemand anderes mit ihm."
„Ich habe ihn nicht beiseite gelegt", protestierte ich.
„Richtig. Er hat dich beiseite gelegt, also sollte es dir egal sein", kam die besserwisserische Antwort.
Ich könnte ihn gerade hassen, wenn er nicht recht hätte. Eigentlich sollte es mir egal sein. Eigentlich hatte ich mit dem Thema Joko abgeschlossen, aber eigentlich eben auch nicht. War nicht so einfach, wenn man sich ständig sah, noch miteinander zu tun hatte und keinen richtigen Abschluss gefunden hatte.
„Ist nicht so einfach", sprach ich den Gedanken dann auch aus.
Jan seufzte, bevor er sich noch ein Stück Kuchen in den Mund schob. Wo ließ der Kerl den ganzen Süßkram?
„Du warst schon immer seltsam fixiert auf ihn. Von Anfang an. Das hab' ich noch nie nachvollziehen können. Was ist das nur für eine komische Geschichte mit euch? Sollte das mit der Zeit nicht besser werden?"
„Ich glaube, es wird eher schlimmer."
„Dann solltest du erst recht die Notbremse ziehen. Reicht es nicht, dass er jetzt schon mit den Mitarbeitern rummacht? So einen hast du doch gar nicht nötig."
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es war nur schwer jemand anderen zu finden, wenn die Vergangenheit einem ständig vor der Nase herumlief und einem zeigte, was man hätte haben können.
Ich schob die Reste meines Tiramisus mit dem Löffel über den Teller.
„Ich bitte dich."
„Ja, was denn? Du siehst unfassbar fit aus, also scheint das mit dem Sport noch nicht eingeknickt zu sein. Für mich wäre das ja nix."
„Du Lauch hast das ja auch gar nicht nötig. Bei meinem Nervennahrungsverschleiß und der ganzen Schokolade, die ständig überall rumliegt, bleibt es ja nicht aus, dass ich fett werde."
„Als würde jemand absichtlich wollen, dass du dick wirst."
Ich schnaubte belustigt.
„Na klar. Der Typ gründet eine Firma, die aufwendige Schokolade herstellt, damit sein Ex, der gerne Schokolade isst, dick wird. Du solltest die Seiten wechseln und Querdenker werden."
„Du bist einfach nur blind. Eine gewisse Logik hat es doch."
Das ging mir dann doch zu weit und ich schob nun endgültig den Teller mit dem restlichen Desert von mir. Der Appetit war mir vergangen.
„Dann hat er sein Ziel aber nicht erreicht, weil ich seit Wochen nicht an die Schokolade gegangen bin."
„Das sieht man allerdings", sagte Jan anerkennend und zwinkerte mir zu. „So fit hab' ich dich noch nie gesehen."
„Hör auf mit mir zu flirten! Du kannst dir gar kein Urteil bilden. Hast mich lange nicht nackt gesehen."
Ich versuchte meine roten Ohren mit einer schnippischen Antwort zu überspielen. Der Kerl war unmöglich.
„Wenn ich mir das hier so alles anhöre, hat dich schon lange niemand mehr nackt gesehen."
„Es kann nun mal nicht jeder eine solche Bilderbuchfamilie haben."
„Nur, weil du es lieber kompliziert magst."
„Ich such' es mir doch nicht aus. Wenn ich die ganze Sache einfach abschütteln könnte, würde ich es tun. Das geht jedoch nicht, wenn er mich jetzt auch noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit bedrängt."
Apropos bedrängen. Schon wieder vibrierte mein Handy in der Tasche und wollen Sie raten, wer es war? Na? Na? Wissen Sie es? Da kommen Sie nie drauf! Joko natürlich. Nach der zweiten Nachricht machte ich mir nicht mal mehr die Mühe nachzuschauen. Jan musste es meinem Gesicht ansehen, denn er zog in typischer Manier die Augenbraue hoch.
„Bedrängen ist gut. Da scheint jemand ziemlich anhänglich zu sein."
„Das Wort anhänglich würde ich in diesem Zusammenhang eher weniger gebrauchen. Wohl eher nervig. Er wollte unbedingt wissen, wo wir uns treffen. Ich konnte gerade noch so verhindern, dass er mitkommt."
„Hat er Angst, dass ich dich doch noch aus Berlin raushole und zurück nach Köln zerre?"
„Wenn es nur so wäre. Seine Ängste sind weniger jugendfrei", sagte ich und nahm einen großen Schluck von meinem Bier.
„Er teilt deine Aufmerksamkeit noch immer sehr ungerne, obwohl es in eurer derzeitigen Situation eine gewisse Ironie nicht entbehrt. Da gilt es jetzt entweder die Sache ein für alle Mal aus dem Kopf zu bekommen oder gleiches mit gleichem zu vergelten. Was ist die bessere Option?"
Da lagen die zwei Möglichkeiten vor mir auf dem Tisch. Ich musste mich nur entscheiden, denn eines war klar: Ich musste ihn mir aus dem Kopf schlagen. Endgültig. Die Frage war nur, auf welche Weise ich es angehen wollte.
„Was machst du morgen?", fragte ich Jan und hörte, wie die Rädchen in meinem Kopf sich quietschend in Bewegung setzten.

Postemotionale WirklichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt