Lynn

Unsere erste Klausur haben wir vorbildlich bestanden. Heute Vormittag bekamen wir die Ergebnisse, welche bei Resi und mir Euphorie auslösten. Wie kleine Kindern hüpften wir umeinander herum und nahmen uns in den Arm vor lauter Erleichterung. Das Lernen hatte sich gelohnt und durch ihre Hilfe konnte ich den Stoff festigen. Wir sind wirklich ein klasse Team und zur Feier des Tages läd sie mich in eine Bar ein. Ich liege gerade bäuchlings auf meinem Bett und lese ihre SMS. Tatsächlich ist das keine schlechte Idee. Wir sollten darauf anstoßen und etwas anderes hatte ich heute eh nicht vor. Ablenkung ist immer gut. Es ist jetzt über eine Woche her, seit Jayden und ich keinen Kontakt mehr haben. Tagsüber konnte ich das immer sehr gut verdrängen, da ich durch die Uni beschäftigt war, nur die Nächte waren lang und bitter, denn die Realität holt einen früher oder später doch immer ein. Obwohl ich die letzten Tage nur auf Achse war, fiel mir einschlafen Abends schwer, denn meine Gedanken führten mich immer wieder zu ihm. Ich war in Vorlesungen, zu Besuch bei meinen Eltern, mit denen ich einen schönen Tag zu Hause verbrachte und mein Zahnarztbesuch stand auch an. Ich war wirklich jeden Tag unter Menschen, nur alleine kam ich nicht zurecht. Mir die Tatsache einzugestehen, dass wir uns verloren haben macht mich krank. Hätte ich mich nicht in ihn verliebt, wäre es vielleicht nicht so ausgegangen.

Ich stehe von meiner Matratze auf und laufe zum Spiegel im Bad. Dort öffne ich meinen Pferdeschwanz und lasse mir die Haare wellig über die Schultern fallen. Mit einer Bürste lege ich sie mir zurecht und klemme mir mit zwei Spangen die vordersten Strähnen zurück. Ein wenig Concealer unter den Augen soll meine schlechten Nächte verbergen und der rote Lippenstift lenkt die Aufmerksamkeit von ihnen weg. Immerhin gehen wir in eine Bar - ein wenig kann man sich dafür schon aufbrezeln - und tatsächlich ist mir mal danach. Als ich gerade im Bad fertig bin, klopft es an meine Tür. Das kann nur Resi sein. Ich greife kurz nach links um die Ecke, um ihr zu öffnen und schon steht sie grinsend vor mir. Sie trägt ein gelbes Kleid, was ihr bis zu den Knien geht, mit durchsichtigen Ärmeln und einem eckigen Ausschnitt. Damit sie nicht friert hat sie eine hautfarbene Thermoleggings darunter gezogen.
„Wow! Du siehst wirklich mega aus!", bestaune ich meine Freundin, die ebenso an mir herab schaut.

"Danke, aber du bist noch nicht fertig." Sie zieht eine Augenbraue hoch, als wäre sie enttäuscht.

"Na hör mal, du hast mir gerade erst geschrieben. So schnell bin ich nun auch wieder nicht." Ich schließe die Tür hinter ihr und laufe Richtung Kleiderschrank.

"Na dann zack zack, keine Zeit zu verlieren. Die Gläser leeren sich immerhin nicht von alleine." Irgendwie hat sie es geschafft mich einzuholen und öffnet den Schrank als erste. "Oh ha! Lynn du kleines Luder!" Mit großen Augen nimmt sie das erste Teil heraus, was ihr aufgefallen ist und hält es vor sich. "Das ziehst du an!"

In ihrer Hand hält sie meinen olivfarbenen Zweiteiler, den ich bis jetzt nur einmal bei Lia's Geburtstag getragen habe. Der Rock geht bis zu den Knöcheln und ist zum Binden, das Oberteil hat lange, lockere Ärmel, die am Band wieder schmaler werden. "Findest du nicht, dass das ein bisschen zu viel ist?" Mit einem kritischen Blick starre ich vom Kleidungsstück zu ihr und wieder auf das Outfit.

"Zu viel gibt es nicht! Also schmeiß es dir über!"

Nach ihrer Ansage hatte ich keine andere Wahl, als nachzugeben. Während ich mich anzog stöberte Resi im Internet, wo wir hin gehen könnten. Sie wurde fündig, aber dorthin müssen wir S-Bahn fahren. Aber es gibt Schlimmeres, da in der Stadt gefühlt jede Straße eine eigene Haltestelle hat.
Mit unseren Handtaschen und Jacken bepackt spazieren wir zur Bahn. Schon nur nach fünf Minuten Fahrzeit steigen wir aus und laufen die restliche Minute zu Fuß. Nach kurzer Zeit stehen wir schon vor dem weißen Gebäude. Ich möchte gerade reingehen, da hält sie mich mit dem Arm zurück und geiert auf ihr Handy.

"Was? Sind wir falsch? Das muss sie doch sein.", frage ich verwundert, da ich ihre Reaktion nicht nachvollziehen kann.

"Doch, doch, das ist sie."

Resi benimmt sich irgendwie seltsam. "Na dann können wir doch rein?"

Sie tippt wieder irgendetwas auf dem Telefon, dreht sich aber rechtzeitig von mir weg, damit ich nicht darauf lesen kann. "Jetzt warte doch bitte einfach kurz.", sagt sie schon leicht genervt. Also gebe ich nach, in der Hoffnung, dass sie mir gleich noch eine Erklärung gibt, und wippe unruhig mit dem Fuß. Ich sehe mir in der Zeit das Gebäude und die Aushänge der Bar an. Auf einem Zettel sind ausgedruckte Kundenbewertungen, wo sie in höchsten Tönen gelobt wird. Die schönste Gartenbar in ganz Hamburg - steht ebenfalls darauf. Eine Gartenbar? Das ist ja cool! Das heißt, dass sie auf der Rückseite noch einen kleinen Innenhof haben müssten. Dort ist es bestimmt viel gemütlicher als in dem engen Raum. Ich schwinge euphorisch zu meiner Freundin herum. "Resi, die haben einen Hinterhof! Können wir uns dort hinsetzten?"

"Ja." Eine tiefe Stimme aus dem Hintergrund erklingt, die mir nicht fremd erscheint. Eilig drehe ich mich zurück und sehe Brian abgestützt an der Bartür lehnen. Er trägt eine schwarze Jeans und hat ein schwarzes Hemd mit grauen Absätzen darauf an. Warum hat er sich so heraus geputzt? Und was um Himmels Willen macht er hier?

"Brian!" Ich laufe auf ihn zu und er kommt mir entgegen, bis er mich in den Arm nimmt und vom Boden abhebt. Das letzte Mal sahen wir uns, als er mich zu Hause besuchte. Seitdem ist meine Bindung zu ihm eine ganz andere. "Was machst du denn hier?"

Bevor er mir antworten kann tritt Resi hinter mich und steckt ihr Handy in die Handtasche. Sie tippt mir auf die Schulter, wodurch ich die Arme von Brian's Nacken nehme und mich zu ihr umdrehe. "Wir haben eine kleine Überraschung für dich."

Meine Augen werden groß und ich sehe zwischen den beiden Lächelnden hin und her. Ich kann ihre Gesichter nur schwer einordnen. Während ein bisschen Mitleid mitschwelgt, sehen sie auch fröhlich aus. War das von ihnen alles so eingerührt? Nicht Resi hat die Bar ausgesucht, sie hat nur so getan und auf die Anweisungen von Brian gewartet. Das gibt's doch nicht. "Ihr macht mich verrückt. Was habt ihr ausgeheckt?"

"Wir beide können uns denken, wie es dir gegangen sein muss, nachdem Jay sich so verhalten hat. Jetzt machen wir uns einen schönen Abend und sorgen dafür, dass du bessere Laune bekommst."

Gerührt sehe ich zwischen meinen beiden Freunden hin und her. Sie haben sich soviel überlegt, um mich zu überraschen. "Ihr seid unmöglich." Ich lege meine Arme um sie und ziehe sie an mich heran. Obwohl der Abend noch nicht einmal so richtig begonnen hat bin ich ihnen dankbar, dass sie mich aufmuntern wollen. Vor allem hätte ich nicht damit gerechnet, dass sich Brian mit mir und Resi zusammen an einen Tisch setzt, um ein paar lustige Stunden zu verbringen. Wahrscheinlich hat unser Gespräch auch bei ihm einige Denkmuster verändert, was mich wirklich stolz macht. Ich, Lynn Morris, die den sturen Brian Jakobs zur Vernunft bringt.

"Na los, jetzt aber rein." Resi drängelt schon, vermutlich weil ihr Durst immer größer wird, und läuft voran, sodass sie erst mich und dann auch Brian mitzieht, da ich immer noch die Arme um sie habe.

Damit wir durch ihren schnellen Schritt nicht noch stolpern, löse ich sie von mir und im Entengang marschieren wir durch die grüne Tür in die Bar, um uns einen ruhigen Platz zu suchen.

𝕍𝕠𝕟 𝕙𝕚𝕖𝕣 𝕓𝕚𝕤 𝕫𝕦𝕞 𝕨𝕚𝕣 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt