11. Den Kopf frei-vögeln

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POV NOAH

Schnellen Schrittes lief ich den spärlich beleuchteten Gehweg entlang. Der kalte Wind fuhr mir durch den Stoff meiner Kleidung ungehindert in die Gliedmaßen. Ich zog mir die Kapuze des Pullovers über und verstaute meine Hände in den Hosentaschen der Jeans.

Verflucht nochmal, was war das eben mit Ruby? Wie konnte mir die Situation dermaßen entgleiten?

Ich könnte mich jetzt selbst belügen und behaupten genau das wäre mein eigentliches Ziel gewesen, um Ruby endlich ins Bett zu bekommen. Da gab es nur ein Problem —nichts davon war absichtlich passiert. Weder dass ich ihr einen Teil meiner Gedanken eröffnet hatte, noch diese seltsam innige Situation.

Mein Kopf hatte sich heute mit vielen Dingen beschäftigt, nur nicht mit Ruby. Erst als wir nebeneinander auf dem Fußboden gesessen, gegessen und Wein getrunken hatten, hatte mein Kopf sich unwillkürlich für sie geöffnet.

Und ehe ich mich versehen konnte saßen wir voreinander, starrten uns an und waren drauf und dran uns zu küssen.

Eigentlich sollte mich das freuen. Schließlich hatte ich es mir zum Ziel gemacht Ruby um den Finger zu wickeln. Und dieses Ziel hatte sich die letzten Wochen nicht verabschiedet. Nein, im Gegenteil. Umso öfter ich ihr begegnet war, umso anziehender fand ich sie. Ihr ganzer Körper und ihre ablehnende Art machten mich extrem an. Keine Frage, heiß fand ich sie ja ohnehin schon immer.

Wieso  war ich also so durch den Wind?

Merkwürdigerweise war sie heute nicht nur heiß.

Ich hatte heute das erste mal bemerkt, wie schön sie wirklich war.
Und das nicht nur äußerlich.
Das erste Mal seit Wochen hatte ich mich verstanden gefühlt. Das erste Mal konnte ich mit jemandem über meine Probleme sprechen, ohne mich dadurch schwach fühlen zu müssen. Es hatte sich wie ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen zwei wirklich guten Freunden angefühlt. Als hätte ich mich noch Stunden mit Ruby unterhalten können.
So war es beinahe eine logische Konsequenz, dass ich mich unheimlich zu ihr hingezogen gefühlt hatte.

Verflucht, ich sollte sie in meinem Bett haben wollen und sie nicht umarmen und küssen wollen.

Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet sie es war, der ich mich ohne weiteres anvertraut hatte?

Vielleicht war es meinen aufgewühlten Gedanken geschuldet. Das Gespräch mit meinem Vater war, wie erwartet, ein reines Streitgespräch, bei dem er mir mal wieder all die Dinge aufgezählt hatte, bei denen ich, in seinen Augen, eine Enttäuschung war. Allen voran mein kürzlich abgebrochenes Studium.
Das dürfte ich mir sicherlich bis an mein Lebensende anhören. Sollte ich bis dahin überhaupt noch Kontakt zu ihm pflegen. Das tat ich ohnehin nur Avery und meiner Mutter zuliebe.

Eigentlich wollte ich mich einfach ablenken. Diesen Abend all die erniedrigenden Gefühle, die mein Vater mir jedes Mal verpasste, in Alkohol ertränken. Meinen inneren Schmerz durch das enthusiastische Gefühl von einem kleinen sexuellen Abenteuer mit einer Unbekannten aus irgendeinem Club ersetzen.

Sex—daran sollte ich denken. Auch bei Ruby.

Und —verflucht nochmal— nicht an ihre moosgrünen Augen, braunen langen Haare und weich aussehenden, geschwungenen Lippen.

Kräftig kickte ich frustriert über mein eigenes Verhalten einen Stein über den Gehweg.

Was war nur in mich gefahren? Es sah mir überhaupt nicht ähnlich mich Fremden gegenüber zu öffnen?

My Roommates BrotherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt