Kapitel 12 (Nick):

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Ich atme tief ein, inhaliere den Rauch meiner Kippe so gut ich kann, doch werde immer wieder von diesem nervigen Husten unterbrochen. Ich beuge mich nach vorne und spucke grünen Schleim auf die gepflasterten Steine der Gasse, in der ich sitze. Ein Schauer durchfährt mich, als ich an letzten Winter denke. JayR starb an so einem Husten. Er war mein bester Freund. Ich beiße mir auf die Wange und auf andere Gedanken zu kommen, hole ich ein kleines Päckchen aus einer der vielen Taschen meiner Armeehose. Ich sehe mich noch einmal um, dann zaubere ich aus anderen Taschen noch eine Packung Zigaretten und Papes. Seufzend nehme ich eine Kippe, reiße sie auf und fange etwa die Hälfte des Tabaks auf einem Papier auf, den Rest lasse ich ungehindert zu Boden rieseln. Ich öffne mein kleines Päckchen und hole ein paar etwas größere Bröckchen heraus, die ich fein zerreiße und auf das Pape lege. Ich rauche ohne Filter. Dann rolle ich den Joint ein, nicht schön, nicht perfekt, aber akzeptabel. Ich nehme ihn zwischen meine Lippen und zünde ihn an. Anfangs ist da nur Tabak, doch sobald ich den ersten, tiefen Zug Gras einatme, spüre ich, wie ich mich entspanne. Ohne diesem Zeug könnte ich hier nicht schlafen. Es ist zu kalt, zu nass, zu gefährlich. So ist das Leben von uns: Den ganzen Tag um Geld betteln, von dem wir etwas Essen und Drogen kaufen können. Anschaffen gehen, damit man die kältesten Nächte des Winters in einer warmen Wohnung, im Bett eines fremden Mannes verbringen kann. Es wundert mich immer wieder, wie viele Typen gerne mit einen kleinen, fetten Jungen wie mir ihr Bett teilen. Ich finde es widerwärtig, doch was bleibt mir anderes übrig? Ausgesucht habe ich mir dieses Leben jedenfalls nicht. Viele hier draußen sahen die Straße als großes Glück, als Lösung aller Probleme. Doch nicht ich. Ich wusste, dass es mir hier unglaublich schlecht gehen würde. Doch es gab keinen anderen Weg. Bei mir ging alles sehr langsam, sehr schleppend. Doch das merkt man erst im Nachhinein, wenn man dann eben auf der Straße sitzt und um sein Leben bettelt. Man kann das hier nicht 'Leben' nennen. Wenn, dann 'Überleben', wobei das schon übertrieben ist. Denn hier überlebt niemand. Manchmal frage ich mich, ob ich wohl jemals so verzweifelt sein werde, wie die grauhaarigen, zerbrechlichen Penner am Straßenrand, doch dann fällt mir ein, dass ich wahrscheinlich nie meinen 25. Geburtstag erleben werde. So viele habe ich schon kommen und gehen sehen. Vor allem gehen. Ich lebe hier seit ich sieben bin. Sehr, sehr jung, ja, selbst für unsere Verhältnisse. Doch was sollte ich damals machen? Ich hatte keine Wahl. Und ich habe auch jetzt keine mehr. Ich komm nicht mehr hier weg. Ich werde hier leben. Und ich werde hier sterben. Alle sind gestorben. Außer mir ist kein Mitglied meiner ersten Gang - Black Devils - ist noch am Leben. Chico, der jüngste starb mit gerade einmal zwölf Jahren. Das ist sogar für die Straße verdammt jung. Waterfall, meine Freundin. Ich hielt ihre Hand, während sie sich aufgrund einer Alkoholvergiftung zu Tode kotzte. Mira, ihre Schwester verschwand kurz darauf mit einem Typen und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Und nicht zuletzt meinen Bruder Marco, oder wie er sich hier nannte: Dju. Jeder hier hat einen Decknamen. Um sich zu schützen. Seine Familie. Oder um einfach jemand anderes zu sein. Aber das gelingt nicht. Denn man ist immer man selbst: Verschmutzt, kaputt, krank, verletzt, zerstört.

Eben ein Kind der Straße.

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt