Kapitel 15 (Michael Air Jordan):

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Ich habe alles gehört. Natürlich habe ich alles gehört. Flame hat sich noch nie die Mühe gemacht, seine Stimme zu senken. Ich kenne ihn seit Jahren. Besser, als jeder andere. Ich habe ihn aufgenommen, bis er stark genug war die Gang zu leiten. Und er hatte das Zeug dazu, das hat er immer noch. Doch er will es nicht einsehen. Er will sterben. Ich habe es genau gehört.

Als er heute Abend nicht beim Treffpunkt war bin ich ihn suchen gegangen. So schwer war es nicht. Wie gesagt: Ich kenne ihn besser, als jeder andere auf dieser Welt. Besser als Moon. Hundert mal besser. Sie taucht hier auf und ruiniert sein Leben. Er hat noch nie von Selbstmord geredet. Und jetzt will er sich umbringen. Mit ihr zusammen. Allein dafür würde ich ihr am liebsten den Hals umdrehen. Doch sie macht ihn glücklich. Sie gibt ihm die Dinge, dich ich ihm nicht geben kann. Nein, korrigiere ich mich selbst, die Dinge, die er nicht von mir will. Ich atme tief durch, presse mich fester an die Hauswand, sodass mich die Dunkelheit vollkommen verschlingt. Kraftlos sinke ich zu Boden, ziehe meine Beine an meinen Körper, umschlinge sie mit meinen Armen und lasse meinen Kopf auf meine Knie fallen. Wieso ist das alles nur so kompliziert? Wieso konnte ich ihn nicht unter anderen Umständen kennenlernen?

Ich bin nicht von zu hause raus geflogen. Ich bin gegangen. Einfach, weil ich es konnte. Wenn dir täglich alles in den Arsch geschoben wird... Wie lange hältst du das aus? Die meisten haben mich um alles beneidet. Meine Eltern – sie Chefarzt in der Chirurgie, Neurologie, er Architekt. Meine Familie – eine bildhübsche, kluge, kleine Schwester. Die Typen standen Reihe. Jeder durfte einmal ran. Und ich konnte nichts machen. Es war ihre Art, mit dem Schmerz umzugehen. Liebe zu bekommen. Von den unterschiedlichsten Männern. Jede Nacht ein Anderer. Unsere Eltern waren nie da. Es mangelte uns an nichts. Wir genossen die Privilegien einer Privatschule. Es war nie ein Problem, wenn ich Segeln wollte. Fechten. Ich war ein riesiger Basketballfan. Also bekam ich zu meinem 12. Geburtstag eine Trainingswoche mit Michael Air Jordan geschenkt. Es war toll, keine Frage. Doch ein selbst gebackener Kuchen und eine Umarmung hätten mir mehr gefallen. Zum Surfen flogen wir für einige Wochen nach Hawaii. Wir machten Kurztrips in die USA. Wir – das sind meine Schwester und ich. Meine Eltern hatten keine Zeit. Sie gaben uns alles. Alles materielle. Doch nicht das, was alle Kinder wollen, brauchen: Liebe. Zuneigung. Körperwärme. Und irgendwann hatte ich genug. Meine kleine Schwester rebellierte schon vor mir. Sie wurde in ein Mädcheninternat gesteckt. Sie macht dieses Jahr ihren Abschluss. Sie ist sehr gut. Glaube ich. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr. Also wusste ich es besser. Ich verschwand. Das einzige, was mich noch an die alte Zeit erinnert sind meine Schuhe. Golden Moments. Ein Sammlerstück. Ein Paar ist gold- schwarz, das andere gold- weiß. Die schwarzen habe ich zuhause gelassen. Vielleicht stehen sie im Schlafzimmer meiner Eltern. Zur Erinnerung, dass sie mal einen Sohn hatten. Doch irgendwie bezweifle ich das.

Wieso also kann ich kein normaler Mensch sein? Eine normale Kindheit, normale Probleme, eine normale Familie. Was zur Hölle ist heutzutage schon normal? Ich weiß es nicht. Aber ich frage mich immer wieder und wieder, wieso ich nicht normal bin. Wieso ich nicht ganz normal ein kleines süßes Mädchen lieben kann, sie küssen kann und es toll finden kann. Wieso muss ich anders sein? Wieso immer ich? Wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten... Wäre es dann anders gekommen? Könnte ich zu meinen Gefühlen stehen? Ich weiß es nicht.

Ich richte mich wieder ein wenig auf, um Moon und Flame zu beobachten. Die beiden stehen eng umschlungen auf einer der Treppen vor dem Kölner Dom. Unwillkürlich werde ich wieder von diesem Hass überrollt. Ich bin Flames bester Freund. Und dann kommt sie und alles ist vorbei? Ich sollte da stehen, ihn umarmen, ihm meinen Trost spenden. Ich könnte es. Ich würde nicht schweigen, wie sie es tut. Ich würde... Würde... Würde... Ich stoße einen unterdrückten Schrei aus und schlage mit meiner Faust fest gegen die Hauswand, an die ich mich lehne. Der Schmerz ist stark, real. Er hilft mir, irgendwie klar zu denken. Das rede ich mir zumindest ein. Eigentlich kann mir hier gar nichts mehr helfen. Ich bin verloren.

Wenn Flame mich gefragt hätte, ob wir uns zusammen umbringen würden...

...ich hätte ohne zu zögern zugestimmt.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 22, 2015 ⏰

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