Kapitel 14 (Flame):

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Februar:

Endlich sehe ich sie kommen. Ich warte seit Mittag und es hat mir eigentlich nichts ausgemacht, doch nach dem Sonnenuntergang fing es an, sehr kalt zu werden. „Hey", rufe ich leise und ziehe Moonshine dicht an mich. „Hi...", etwas überrumpelt drückt sie sich von mir weg und schaut mir in die Augen. „Alles klar?", fragt sie misstrauisch. Ich beiße mir auf die Wange, zwinge mich zu einem Lächeln und drücke sie fester an meine Brust. Ich habe Angst vor dem, was ich ihr mitteilen werde, doch es muss so sein. Alleine schaffe ich es nicht. Ich weiß, dass ich ein verdammter Feigling bin, doch so kann es nicht weitergehen. Der Winter war hart, zu hart. Moon hat stark abgenommen – als wäre sie nicht schon dünn genug! - und auch ich bin nur noch ein Schatten meines Ichs. Bis der Sommer kommt dauert es. Und selbst dann wird es nicht besser. Klar, die Kälte verschwindet, doch es kommen mehr Touristen und Kinder die sich auf den Straßen und in den Parks aufhalten wollen. Und dafür müssen wir weg. Meine Gang hat letzten Sommer zwei Mitlieder verloren – sie hielten sich an unbefugten Orten auf und wanderten dann aufgrund ihres so wie so schon vollen Führungszeugnisses in den Knast. Dave und Roller. Gute Jungs.

„Was ist los mit dir?", hakt Moon nach, als ich nicht antworte. Sie reißt mich vollkommen aus meinen Gedanken und ich bin erst einmal zu verwirrt um zu antworten, also ziehe ich sie fester an mich und presse meine Lippen auf ihre. Erst erwidert sie meinen Kuss, dann zögert sie und schiebt mich grob von sich. „Was. Ist. Los?", zischt sie wütend. Ich hebe belustigt eine Augenbraue doch senke sie sofort wieder als ich merke, wie wütend sie ist. „Ganz ruhig", versuche ich sie zu beschwichtigen, doch sie lässt nicht locker. „Nein. Nein, ich bleibe ganz sicher nicht ruhig. Erzähl mir jetzt endlich was los ist oder ich geh wieder", sie wendet sich schon ab, doch ich halte sie an der Schulter zurück. „Und fass mich nicht an", knurrt sie. Oh nein. So wütend habe ich sie noch nie erlebt. Ich gehe mit sorgsam am Körper gehaltenen Händen einige Schritte zurück und und stecke diese demonstrativ langsam in meine Hosentaschen. Ich kann mir gerade noch ein 'beruhige dich' verkneifen und atme einmal tief durch. „Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Wir sollten das alles beenden", erkläre ich ohne großer Vorrede. Ich kann ihr zusehen, wie ihre Unterkiefer wörtlich herunterklappt und sie mich vollkommen entgeistert anstarrt. Minuten verstreichen, keiner von uns beiden sagt etwas. Ich höre hinter mir ein Rascheln, doch drehe mich nicht um. Wir sind hier in einem Park, da ist so etwas normal. Als ich nichts sage, ergreift sie das Wort. „Du meinst das ernst? Du meinst es wirklich ernst?", ich kann ihr Entsetzten förmlich in greifen. Als ich nicht antworte, springt sie auf mich zu, packt mich an meiner Lederjacke und zieht mich zu sich hinunter. Trotz der angespannten Situation kann ich mir ein Grinsen nur schwer vergreifen. Ich kann mir gut vorstellen, wie das hier aussieht. Ein kleines Mädchen faucht nen Typen an, der über einen halben Meter größer ist als sie. Doch ich muss mir selbst eingestehen, dass sie wirklich verdammt gefährlich aussieht. Ihre dunklen Augen funkeln leicht grau, wie der Himmel kurz vor einem Gewitter. Die Ruhe vor dem Sturm. Aber mit Ruhe hat das hier nicht mehr zu tun. „IST DAS DEIN FUCKING ERNST???", brüllt sie mich an und schubst mich hart zurück. Ich bin selbst erstaunt über die Kraft, die sie trotz ihrer geringen Größe aufbringen kann. Wir stehen uns nun in etwa zwei Meter Abstand gegenüber und sie tötet mich mit ihren Blicken. Ich hätte es ihr nicht sagen sollen. Ich hätte es einfach tun sollen. Aber was, wenn sie mich dann gefunden hätte? Sie hätte es mir nie verziehen... Ich hätte einfach... Hätte... Hätte. „Ja", sage ich leise und ich merke, dass sie mental viel größer ist, als ich. Viel stärker. Sie kann es schaffen. Doch ich bin zu egoistisch, um das einzusehen. Ich werde mich umbringen. Mit oder ohne ihr. Sie schnappt entsetzt nach Luft, als sie merkt dass ich es ernst meine. Wütend starrt sie mich an, die Zeit scheint still zu stehen, doch eine Bewegung hinter Moonshine lenkt mich ab. Ich starre in die Dunkelheit und warte, aber nichts passiert. „Lass uns wo anders hingehen", sage ich leise, packe meine Freundin am Oberarm und will sie sanft mit mir ziehen. Soweit der Plan. Moon sträubt sich jedoch wie ein kleines Kind gegen meine Berührung. Geschickt taucht sie unter meinem Arm hindurch und funkelt mich an. „Wieso?", faucht sie. Ich rolle mit den Augen und zucke mit den Schultern. Dann eben nicht. Obwohl mir der Platz hier nicht geheuer ist. Ich senke meinen Blick und sehe, wie ihre Miene weicher wird. „Erzähl mir endlich, was los ist", bittet sie mich, doch ich schweige. „Flame!", sie fleht mich an, kommt näher, presst sich an mich. Als ich ihren Körper so dich an meinem spüre, ihre Lippen auf den Meinen, muss ich aufstöhnen. Das ist nicht fair. Sie soll mit mir reden, mich nicht mit ihren Reizen herumkriegen. Schweren Herzens drücke ich sie sanft von mir, woraufhin sie mir einen vernichtenden Blick zuwirft. „Moon. Wir müssen reden." „Mhh nachher", murmelt sie halb in unseren Kuss hinein, doch ich weiß, dass ich jetzt durchgreifen muss. Sonst werden wir dieses Gespräch nie führen. Ich trete näher an sie heran, nehme sie in meine Arme. Sie ist so jung, so zerbrechlich, so zart. Ich kann ihren Tod nicht verantworten. Aber du schaffst es nicht alleine... Ich beiße mir auf die Lippen. „Ich werde mich umbringen. Mit dir oder ohne dich", meine Stimme ist kalt, kälter als beabsichtigt. Ich spüre, wie sie sich an meiner Brust verkrampft, doch sie sagt nichts, wartet, dass ich weiter rede, eine Erklärung liefern muss. „Ich packe das Alles hier nicht. Ich bin der Leader der Gang. Ich bin für sie alle verantwortlich. Aber ich bin nicht dazu geboren. Ich bin kein Anführer. Ich kann sowas nicht. Ich bin nicht in der Lage, jemanden ein Vorbild zu sein, für so viele Menschen zu sorgen. Ich bin nicht in der Lage...", meine Stimme verstummt und ich atme einmal tief durch ehe ich fortfahre: „Ich bin nicht in der Lage, zu leben." Moon presst sich fester an mich, ich merke wie mein Shirt bereits von ihren Tränen durchnässt ist. Doch das ist die Wahrheit. Ich kann nicht weiter lügen, dazu bin ich nicht länger in der Lage. Mein Leben ist kein Leben mehr. Das weiß ich. Das weiß Moonshine. Jeder weiß es. Doch alle schauen weg. Niemand spricht es aus. Wenn jemand keine Kraft mehr zum Leben hat, dann verkriecht er sich in eine Ecke und nimmt eine Überdosis. Und stirbt in der eigenen Kotze. So will ich nicht gehen. Mein Leben war schon alles andere als lebenswert. Dann will ich wenigstens in Würde sterben. Falls sowas überhaupt geht.


On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt