Kapitel 9 (Flame):

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„Raus! Sofort!“, schreie ich, als Xoon und Nick zögern. Sie sehen mich kurz an, dann nicken sie und verschwinden mit einem fluchenden Jordan durch die Hintertür. „Hey, alles wird gut!“, flüstere ich Moonshine zu. Doch sie antwortet nicht. Sie ist ohnmächtig. Wahrscheinlich wegen dem Blutverlust. Ich muss jetzt schnell handeln. Zum Glück kenne ich mich damit aus. Es passiert nicht selten, dass es auf der Straße zu Messerstechereien kommt. Ich ziehe ihr ihre Jacke aus, dass die Wunde freigelegt ist. Und ich schnappe nach Luft. Ich hatte eigentlich angenommen, dass sich ihre selbstzugefügten Schnitte auf den Unterarm beschränken. Doch anscheinend habe ich mich geirrt. Sehr. Die Narben gehen von den Handgelenken, über die Unterarme, Ellenbogen und Oberarmen bis hin zu den Schultern. Sie hat jetzt nur noch ein Top an, doch da dieses schon fast vollkommen blutdurchdrängt ist, schneide ich sie heraus und presse es auf die Wunde. Erst einmal muss sie aufhören, zu bluten. Später kann ich die Wunde dann reinigen und verbinden. Wenn ich doch nur saubere Verbände hätte... Als ich merke, dass das Shirt durchgeblutet ist, presse ich es noch stärker auf die Wunde. Ich höre, wie Moonshine vor Schmerzen stöhnt und atme erleichtert auf. Immerhin ist sie jetzt wieder bei Bewusstsein. Sie öffnet die Augen, und sieht mich an. Ihre riesigen, dunkelblauen Augen sind voller Schmerz, voller Angst und voller Leid. Ihr Kopf liegt in meinem Schoß, und ich kann nicht anders, als mich herunterzubeugen und sie zu küssen. Sie wirkt ziemlich überrascht, doch nach kurzem Zögern erwidert sie meinen Kuss sanft. Ich setze mich wieder auf und sehe sie an. „Versuch, zu schlafen. Ich kümmere mich um deine Wunde“, flüstere ich. Sie sieht mich an, in ihren Augen blitzt nackter Sarkasmus auf. „Denkst du nicht auch, dass ich diejenige bin, die am besten mit Wunden umgehen kann?“, fragt sie ironisch. Ich hole Luft, um etwas zu erwidern, doch schließe wieder meinen Mund. In dem Fall hat sie auf jeden Fall Recht. Sie dreht ihren Kopf zu ihrem Arm und hebt eine Augenbraue, als sie sieht, dass ich ihr Top ausgezogen habe. „Ich... Also... Da war nichts anderes... Ich musste das Blut stoppen... also... ich... tut mir leid...“, stottere ich, als ich merke, wie rot ich werde. Sie rollt nur mit den Augen und gibt mir spaßeshalber einen kleinen Schubs. Doch ich sehe, wie diese kleine Bewegung ihr Schmerzen bereitet. Ihre Augen werden glasig, sie hält die Luft an. „Okay... Hilf mir, mich aufzusetzen“, sagt Moonshine nach einigen Minuten. Ich nicke. Stehe vorsichtig auf, hebe sie wie ein kleines Kind hoch und trage sie nach oben. „Hey, so war das nicht gemeint!“, protestiert sie, doch sie wehrt sich nicht. Im Obergeschoss des Clubs waren wohl mal Wohnungen. Denn heute sind dort nur noch Reste. Keine Ahnung, was hier passiert ist. Es scheint, als hätte jeder alles stehen und liegen gelassen und wäre herausgerannt. Gut für uns. Es gibt hier sogar noch einige Sofas, Matratzen und ein Bett. Was mir gehört, da ich der Anführer bin. Ich lege die Kleine vorsichtig in mein Bett ab, dann laufe ich weiter zur Küche und drehe den Wasserhahn auf. Und warte. Doch nichts passiert. Laut fluchend renne ich wieder runter, hole eine Flasche geklautes Wasser, ein Päckchen Orangensaft und eine Packung Traubenzucker. Auch wenn mir Jordan manchmal echt auf den Geist geht, und ich ihn gerade am liebsten umbringen würde... eines muss ich ihm lassen. Er kann verdammt gut klauen. Ich mache noch einen Abstecher in die Küche, in der ich immerhin einige- mehr oder weniger- frische Handtücher finde, dann laufe ich zurück zu Moonshine. Sie hat sich auf der Seite zusammengerollt und ist eingeschlafen. Und die Wunde hat wieder zu bluten begonnen. Ich berühre sie leicht an der Schulter und sofort schreckt sie hoch. Sie scheint echt empfindlich zu sein. Nicht einmal in Ruhe schlafen kann sie. Sie setzte sich langsam auf, und zum ersten mal betrachte ich die Wunde genauer. Sie ist wirklich verdammt tief, das Fleisch klafft an mehreren Stellen auf. „Das wird jetzt wehtun...“, sage ich leise. Dann tupfe ich mit einem in Wasser getränktem Tuch um ihre Wunde herum. Sie beißt die Zähne aufeinander, Tränen treten ihr in die Augen, doch sie gibt keinen Mucks von sich. „Scheiße“, fluche ich leise. „Was ist...?“, fragt sie leise. „Nichts. Aber das wird gleich richtig wehtun... Auf drei, okay?“, ich sage ihr lieber nichts von den Scherbensplittern in ihrem Oberarm. Sie presst die Lippen zusammen und nickt. „Eins...“, ich fixiere die kleine Scherbe, „Zwei...“, ich packe ihre Spitze zwischen zwei Finger, „Drei“, ich ziehe mit einem Ruck daran, sie schreit vor Schmerz auf, doch die Scherbe bleibt stecken. „Scheiße...“, fluche ich noch einmal. Dann sehe ich ihre, vor Tränen glänzenden Augen. „Ich hole Hilfe, okay?“, flüstere ich. Dann beuge ich mich herunter und küsse sie sanft. „Vertrau mir“, füge ich hinzu. Sie sieht mir in die Augen, die Tränen rinnen ihr über die Wangen. „Das tue ich.“

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt