Kapitel 11 (Moonshine):

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Als ich meine Augen öffne, liege ich in einem Bett. Doch nicht in weiche, warme Laken gehüllt. Nein, die Decken sind klamm und feucht, die Matratze nass und voll von getrocknetem Blut. Als ich an mir herabsehe, merke ich, dass es mein Blut ist. Ich habe nur Unterwäsche an, doch sie und meine Haut sind voller dunkelbraunem Blut. Als ich probiere, mich aufzusetzen, schreie ich vor Schmerz auf und falle kraftlos zurück ins Bett. Keine Minute später höre ich Schritte, sehe wie Flame durch die Tür kommt. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine Haare verstrubbelt, seine Kleidung voller Dreck und Blut. Als ich ihn ansehe, erkenne ich in seinen Augen unendliche Sorge und zugleich Erleichterung. „Ich bin so froh, dass du wach bist“, sagt er und setzt sich vorsichtig an den Rand meines Bettes. Er beugt sich zu mir herunter, küsst mich sanft. Ich erwidere den Kuss, dann sehe ich ihm tief in die Augen. „Wie lange war ich weg?“, frage ich ihn. Er erwidert ernst meinen Blick. „Fast zwei Tage.“ Ich frage ihn nicht, ob er in der Zeit geschlafen, oder gegessen hat. Man sieht es ihm an. „Was ist mit Jordan?“, frage ich, eher aus Höflichkeit. Schlechte Idee. Flame springt auf, die Matratze bewegt sich schmerzhaft unter meinem Arm. Er tigert durch das Zimmer, immer hin und her, den Blick starr geradeaus gerichtet. „Keine Ahnung“, sagt er nur, und ich erachte es für besser, zu schweigen. Mh. Also hat er ihn geschlagen. Und seitdem ist Jordan weg. Nicht, dass es mich groß jucken würde. Wegen ihm bin ich fast gestorben. Wegen ihm werde ich mein Leben lang eine riesige, fette Narbe auf dem linken Oberarm tragen. Als ob ich nicht schon genug- selbstzugefügte- Narben hätte.  Aber vielleicht  überlebe ich das hier nicht mal. So eine Wunde entzündet sich relativ schnell. „Moonshine“, wie verwandelt sitzt Flame auf einmal wieder neben meinem Bett. „Tut mir leid, ich wollte nicht so unfreundlich zu dir sein“, er will mich wieder küssen, doch ich drehe den Kopf weg. „Hey“, versucht er es, doch ich schaue weg. Sanft legt er seine Hand an mein Kinn und dreht es langsam in seine Richtung, dass ich gezwungen bin, ihn anzusehen. Sein Daumen liegt an meiner Wange, er wischt mir die Tränen weg, die zu fließen begonnen haben. „Was ist los?“, fragt er leise, drängend. Ich weiß es nicht. Das ist es doch gerade. Ich habe keine Ahnung. Ich ertrage grade irgendwie gar nichts mehr. „Ist schon okay“, sage ich einfach. Flame sieht mich ernst an. „In Ordnung. Wenn du reden willst, bin ich da“, dann drückt er mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet aus dem Zimmer. Ich seufze. Wenn es doch nur so einfach wäre...

Als ich wieder aufwache, geht es mir schon besser. Neben dem Bett steht ein Tablett mit einer Packung Orangensaft, zwei belegten Brötchen und sogar ein Apfel. Ich habe keine Ahnung, wie die Jungs an das Zeug gekommen sind, doch das ist mir im Moment egal. Hastig verschlinge ich die Brötchen und spüle dann mit dem Saft nach. Ich stecke mir noch den Apfel zwischen die Zähne, dann verlasse ich, nur in ein Laken gewickelt das Zimmer. Als ich den anderen Raum betrete, bedanke ich mich bei mir selbst, dass ich so schlau war, mir was überzuziehen. Auf einem Sofa sitzen Nick, Xoon, L.A. und Flame, und als ich das Zimmer betrete, wandern alle Blicke zu mir. Ich versuche, sie zu ignorieren und frage laut: „Kann ich irgendwo duschen?“ Nick verzieht den Mund zu einer schiefen Grimmasse. „Du kannst in den Buchladen gehen. Da gibt es eine öffentliche Toilette.“ Ich starre ihn ganz kurz an, dann zucke ich mit den Schultern. Wenn es nicht anders geht, muss ich wohl dahin gehen. Ich wickle mich fester in die dreckige Decke, klemme mir frische Klamotten unter den Arm und laufe los. Es ist gerade kurz vor acht Uhr morgens, das heißt es sind jetzt nur irgendwelche hektischen Manager und Verkäufer unterwegs. Ich werde angestarrt, aber das ist für mich nichts neues, also ignoriere ich es, soweit es geht. Vor dem Buchladen sehe ich mich nochmal um, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtet, dann schlüpfe ich hinein. Zum Glück ist noch nichts los. Ich eile mit schnellen Schritten, quer durch den Laden zur Toilette. Dort sperre ich ab und betrachte mich erst einmal im Spiegel. Was ich da sehe, nimmt mir den Atem. Meine Haare sind fettig, dreckig und blutig, ebenso der gesamte Rest von mir. Aber Trübsal blasen  bringt mich jetzt auch nicht weiter. Also lege ich meine Kleidung ab, drehe den Wasserhahn des Waschbeckens auf und halte meine Hände darunter. Es ist wunderbar warm, nach dem eisigen Novemberwind draußen. Ich wasche mich komplett, mit der Seife aus dem Spender, trockne mich mit den dunkelbraunen Papierhandtüchern ab. Am Ende bin ich sogar fast Sauber. Meine Schulterwunde reinige ich mit fließendem, kaltem Wasser. Es schmerzt so sehr, dass ich fast aufschreie, doch ich kann es mir im letzten Moment verkneifen. Plötzlich geht die Tür auf. Ich wirble herum- ich hatte doch abgeschlossen! Vor mir steht eine junge Frau, etwa Ende dreißig. Sie sieht mich entsetzt an, dann schließt sie die Tür wieder. Unschlüssig, was ich tun soll, bleibe ich stehen, und nur wenige Minuten später ist die Frau wieder da. Sie reicht mir ein Handtuch. Ich sehe sie mit riesigen Augen an, nehme es und wickle mich darin ein. Es ist wunderbar warm und weich. „Komm mit“, sagt die Frau zu mir. Sie wirkt nett, doch ich zögere. „Ich verbinde deinen Arm“, fügt sie hinzu. Ich sehe ihr in ihre hellbraunen Augen, sie erwidert den Blick. Dann nicke ich langsam und folge ihr.

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt