Kapitel 8 (Moonshine):

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  • Gewidmet Mama
                                    

 ~fünf Wochen später~

Ich muss lachen. Schon wieder. Der Tag heute war wirklich nicht schlecht. Anstrengend, ja. Aber mit Flame an meiner Seite hat es Spaß gemacht. Ich bin davon selbst überrascht, doch zugleich weiß ich, dass es nur der Anfang ist. Es wird hart. Das Leben hier draußen ist kein Zuckerschlecken. Aber immerhin waren wir heute ganz erfolgreich. Es ist noch ziemlich warm geworden. Für November. Und so kamen gute fünfzehn Euro zusammen. „Du bist mein Glücksbringer!“, sagt Flame zu mir und berührt meine Wange. Das macht er schon den ganzen Tag. Hier und da eine kleine Berührung. Doch ich genieße es. Noch nie hat mich jemand liebevoll berührt. Freundschaftlich. Meine Mutter hat mich, solange ich zurückdenken kann nie umarmt. Immer nur geschlagen. Und mein Stiefvater... Von ihm will ich nicht anfangen. Flame erinnert mich an meinen Bruder. Es ist eine schöne Erinnerung. Und solche kann ich momentan wirklich gebrauchen. Wir laufen Seite an Seite, entfernen uns aus der Stadt. „Wohin gehen wir?“, will ich wissen. Er sieht mich kurz an. „Weg“, antwortet er kurzangebunden. Ich zucke mit den Schultern. In Ordnung. Dann eben nicht. Den größten Fehler, den ich machen könnte wäre, all das hier persönlich zu nehmen. Dabei ist es reiner Schutz. Oder Lustlosigkeit. Wenn er es mir nicht sagen will, hat er seine Gründe. Und das ist in Ordnung. Er muss mich nicht in alles einweihen. Ich neige den Kopf und laufe schweigend neben ihm her. Nach etwa einer halben Stunde sind wir am Rand der Innenstadt angekommen. Flame biegt in eine Seitengasse ein, und mir stockt der Atem. Ich habe ja schon viel gesehen, aber noch nie sowas. Ich werfe Flame einen kurzen Blick zu, dann wate ich hinter ihm her durch den Dreck, der mir bis zu den Knöcheln geht. Überall liegt Müll, der Gestank ist unerträglich und es gibt keinen Zentimeter dieser Wand, der nicht mit Graffiti besprüht ist. Flame rüttelt an einer Metalltür, und als sie nicht aufgeht, wirft er sich dagegen. Wieder und wieder. Beim vierten Mal springt sie endlich auf. Er reibt seine Schulter und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Du hast dir dieses Leben selbst ausgesucht“, sagt er gleichgültig. Ich starre ihn an. „Danke, du musst mich nicht daran erinnern“, fauche ich, nehme meine Sachen und dränge mich an ihn vorbei ins Haus. Es muss wohl mal ein Club gewesen sein, denn es gibt riesige Tanzflächen und Bars, sogar eine kleine Bühne. Der Rest der Gang wartet schon. Nick und Xoon unterhalten sich leise mit Jordan, als ich genauer hinhöre bekomme ich mit, dass es um Clubs geht. L.A. sitzt nur schweigend in einer Ecke und starrt vor sich hin. Wahrscheinlich ist er stark alkoholisiert. Oder Schlimmeres. „Alles zu mir“, Flames Stimme reißt mich aus den Gedanken. Alle Gangmitglieder stehen langsam auf, schlurfen zu ihrem Leader und legen ihre heutige Beute ab. Nick und Xoon haben zwei Flaschen billigen Vodka und einige Dosen Bier dabei. Jordan hingegen legt eine riesige Tüte Gebäck, einige Flaschen Saft und Wasser, etwas Käse, eine Wurst und ein paar Süßigkeiten auf die Bar. Flame pfeift anerkennend und hält die Hand auf. Jordan lässt etwa Kleingeld hineinfallen, welches Flame sofort an Xoon weitergibt. „Jeder hat hier seine eigene Aufgabe. Xoon verwaltet unser Geld. Nick ist dafür verantwortlich, dass uns keiner das Jugendamt auf den Hals hetzt. Jordan besorgt Essen, L.A. normalerweise den Alkohol“, er unterbricht sich, und wirft seinem Freund einen kurzen Seitenblick zu. Er hat sich immer noch nicht bewegt. „Ich leite diese Gruppe. Und du...“, er macht eine Pause und sieht mich lange an. Was wird wohl meine Aufgabe sein? „Sie ist klein. Und sieht ziemlich unschuldig aus“, wirft Jordan ein. Xoon nickt zustimmend. Flame betrachtet mich von oben bis unten. „Es ist zu gefährlich“, entscheidet er. Plötzlich geht alles ganz schnell. Jordan stürzt sich auf Flame dieser weicht zur Seite, sodass er über die Bar, in einen Haufen alte Flaschen fällt. Es splittert und kracht, doch Michael Air Jordan springt sofort wieder auf. Ich sehe in seiner rechten Hand eine zersplitterte Flasche aufblitzen, doch Flame sieht sie nicht. Ich laufe los, doch weiß, dass ich nicht rechtzeitig kommen kann. „Jordan!“, schreie ich, und er wendet sich mir zu. Seine Augen blitzen vor Hass auf, als er die Waffe gegen mich richtet. Er holt weit aus und schlägt zu. Ich kann mich nicht bewegen, bin unfähig auch nur zu atmen. Sein Blick, seine Art, sein nach Whisky stinkender Atem. Das alles erinnert mich zu sehr an meinen Stiefvater. Die Erinnerungen überschwemmen mich, und ich bin nicht in der Lage, mich auch nur zu ducken. Kurz bevor das zerbrochene Glas auf meinen Kopf auftrifft, werde ich grob zur Seite geschubst, Scherben streifen meine Schulter. Ich schreie vor Schmerz auf, schreie vor Angst, schreie vor Schock. „Bringt ihn hier raus. Und haltet ihn dort fest, bis ich etwas anderes sag!“, befiehlt Flame kurz angebunden. Ich sehe noch, wie Nick und Xoon Jordan herauszerren. Dann wird alles schwarz.  

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt