Kapitel 4 (Xoon):

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Als ich sehe, wie die Kleine aufspringt und unter Tränen wegrennt, zögere ich nicht lange. Sie erinnert mich einfach zu sehr an meine kleinen Schwestern. Ich stoße mich leise von der Wand ab und folge ihr. Grinsend muss ich zugeben, dass sie wirklich verdammt schnell ist. Als ich hinter ihr durch die Gassen renne, klimpern die Sicherheitsnadeln an meiner Kapuzenjacke und meine schwarzen Dreadlocks wippen bei jedem Schritt auf und ab. Ich sehe, wie sie sich einige Male panisch umdreht, doch sie bemerkt mich nicht. Natürlich nicht. Keiner kennt Kölns Straßen so gut, wie ich. Nach einigen Minuten bleibt sie stehen und sinkt keuchend an einer Hauswand zu Boden. Keine Minute später sitze ich ihr gegenüber. „Hey.“ Sie stößt einen erstickten Schrei aus und springt auf. Doch da ich keine Anstalten mache, sie zu verfolgen, bleibt sie leicht irritiert stehen, als weiterzulaufen. Abhängen hätte sie mich eh nicht können.

„Was willst du?“, fragt sie mich ziemlich unfreundlich und ich hebe überrascht eine Augenbraue. Vor der Gruppe wirkte sie so schüchtern, doch jetzt scheint sie sehr selbstbewusst zu sein. „Ich bin Xoon“, ich lasse mich durch nichts aus der Ruhe bringen. Wieso auch. Wir haben alle Zeit dieser Welt. Sie wirft mir einen langen, nachdenklichen Blick zu. „Okay. Und weiter?“, fragt sie mich und ich muss grinsen. Doch dann sehe ich, ihre nass glänzenden Wangen und dass sie nur mit Mühe weitere Tränen zurückhalten kann, also werde ich sofort ernst. „Geh nicht“, sage ich nur. Sofort bricht sie in Tränen aus. Ich seufze, rapple mich auf, lege ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckt nicht einmal zurück. Also gut. Wenn sie von sich aus nicht reden möchte, helfe ich ihr eben. „Wieso willst du nicht bleiben?“, frage ich sie, leise und unaufdringlich. „Das ist es doch!“, schreit sie verzweifelt. Dieses Mal zucke ich zusammen. Sowas hätte ich nie von ihr gedacht. „Pst“, sage ich. Wir dürfen auf keinen Fall Aufmerksamkeit erwecken.  Sie sieht mich ganz kurz an, als würde das alles keine Rolle mehr spielen. Doch das tut es. Man denkt sowas oft. Von wegen ´Es ist egal, was ich jetzt mache, mein Leben ist eh sinnlos´. Doch wenn man dann weiterlebt bereut man das, was man getan hat. Und das weiß sie, ich sehe es in ihren riesigen, blauen Augen. „Also. Du willst nicht gehen. Aber trotzdem tust du es...“, setze ich an, um ihr vor Augen zu führen, wie sinnlos das ist. Natürlich weiß ich, dass alles viel komplizierter ist. Aber wenn ich es einfach darstelle, wird es auch leichter zu lösen sein. Sie seufzt. „Ich will nicht, dass sie die Gang wegen mir zerstreitet“, sagt sie, ihre Stimme ist unglaublich süß und sanft. In meinen Ohren fühlt es sich an, wie tausend stechende Messer, tausend brennende Flammen. Diese Stimme erinnert mich zu sehr an die beiden Kleinen. Doch ich muss ihr helfen. Weil ich meinen Schwestern nicht helfen konnte. So sehr ich es auch wollte. So sehr ich auch wünschte, ich hätte mein Leben für das der Zwillinge geben können. Doch das kann ich nicht. Leider. Noch heute, drei Jahre nach dem Autounfall, wache ich nachts auf, weil ich meinem Vater anschreie, er solle auf die Straße schauen, anstatt mit meiner Mutter zu streiten. Die beiden haben immer gestritten. Sie saßen vorne. Hinten saß ich in der Mitte. Links von mir saß Leonie. Rechts saß Melanie. Beide haben sich voller Angst an mich geklammert. Ihren großen Bruder. Ich war damals sechszehn. Die beiden waren elf. Und dann kamen wir von der Straße ab. Ich schüttle leicht den Kopf, um die Gedanken zu verdrängen. Daran will ich mich jetzt wirklich nicht erinnern. „Wegen dir werden sie weder mehr, noch weniger streiten. Naja, vielleicht weniger. Denn sie brauchen ein Mädchen. Dadurch, dass wird seit zwei Jahren nur Jungs sind, ist der Umgang zwischen ihnen ziemlich...“, ich suche nach dem passenden Wort, doch sie unterbricht mich. „Du willst, dass ich sie erziehe?“, fragt sie ungläubig. Ich verdrehe die Augen. „Nein, das meinte ich nicht...“, sage ich, doch sehe, wie sie grinst. „Aber... wenn ich bleibe, Jordan wegen mir die Gang verlässt...?“, fragt sie dann zögernd. Ich winke ab. „Der wird nicht so schnell gehen, glaub mir. Der ist schon lang da, er wird auch bleiben. Jordan zieht gerne eine Show ab, das wars.“ Moonshine sieht mich von unten an, ihre Augen wirken riesig und es fühlt sich an, als würde ich einen riesigen Kloß im Hals haben. „Also gut“, sagt sie leise. „Ich bleibe.“ Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Melli und Leo konnte ich nicht beschützen. Aber dafür jetzt aber Moon.

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt