Kapitel 1 (Cleo):

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  • Gewidmet Papa
                                    

 ~Cleo~

Leise schaue ich mich noch einmal um. Dann ziehe ich die Tür hinter mir ins Schloss und renne los. Doch nach einigen Schritten wird mir klar, dass es sinnlos ist. Mir wird eh niemand folgen. Trotzdem laufe ich voller Angst, gesehen zu werden, noch einige Straßen weiter, erst dann verlangsame ich meine Schritte. Es ist jetzt kurz nach zwei Uhr morgens, die Straßen sind leer, tot. Ich gehe zum Bahnhof, um halb drei fährt der Zug. Geld für ein Ticket habe ich natürlich nicht, aber ich werde mich schon irgendwie durchtricksen. Notfalls lüge ich eben. Ich kann gut lügen.

Im Zug ist es eisig kalt. Wie auch anders. Es ist inzwischen schon November. Eigentlich wollte ich bis zum nächsten Sommer warten. Aber länger habe ich es nicht mehr ausgehalten. Also habe ich meine wenigen Sachen gepackt und bin abgehauen. In meinen kleinen, schwarzen Rucksack hat nicht viel reingepasst. Eine Leggins, eine Jeans, ein Top, ein Übergroßen T-Shirt. Einen dicken Pulli. Ersatzsocken. Ersatzunterwäsche. Eine Bürste. Mein Feuerzeug. Meine Klingen. Meine Schminke. Ein Schlafsack. Mein Ziel ist Köln. Da gibt es viele, wie mich. Jugendliche die fliehen. Vor dem Horror daheim. Vor dem Horror in der Schule. Dem Horror in der Heimatstadt. Dem Horror dieses Lebens.

Als ich höre, wie der Fahrkartenkontrolleur sich näher, mache ich mich ganz klein. Ich rolle mich auf meinem Sitz zusammen, mache mich ganz klein und tue so, als würde ich schlafen. „Entschuldigung, Lady...“, werde ich angesprochen und zucke innerlich zusammen. Ich bin keine Lady. Doch ich ignoriere den Ärger, der in mir aufkommt und zwinge mich, gleichmäßig zu atmen. Ich kann mir den unentschlossenen Gesichtsausdruck des Kontrolleurs genau vorstellen. Er weiß nicht, was er machen kann. Laut rumschreien, um mich zu wecken? Niemals. Mich wachrütteln? Nein, er würde es nie wagen, mich zu wecken. Ich höre, wie er leise seufzt und weitergeht, doch ich bleibe lieber noch einige Minuten bewegungslos liegen, bis ich höre, wie er weitergeht. Ich will mich gerade aufsitzen, als ich mich doch dagegen entscheide. Wieso sollte ich auch. Ich kann genauso gut noch ein wenig schlafen.

„Hey Mädchen, wach auf...!“, werde ich aus meinem Traum gerissen. Gut so. Denn schön war er nicht. Schön sind sie nie. Ich blinzle und stehe schon, bevor ich vollkommen wach bin. Flüchten. Das war immer der schnellste Ausweg. Doch vor mir steht nicht mein Vater, sondern eine etwas ältere Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Ich starre sie verwirrt an, immer noch halb im Schlaf. „Wir sind jetzt in Köln angekommen...“, sagt die Dame und sieht mich mitleidig an. Na toll. Kaum bin ich paar Stunden unterwegs, schon sieht mir jeder an, dass ich hier nicht hingehöre. Aber okay. Nach Hause gehöre ich erst recht nicht. Ich bedanke mich leise, schnappe meinen Rucksack, laufe durch den Zug und springe auf den Bahnsteig. Ich muss mich beeilen, um die Uhrzeit sind hier beim Bahnhof die komischsten Personen unterwegs- und damit automatisch auch viele Polizisten. Ich renne durch die Gassen Kölns, auf der Suche nach einer Gruppe, denen es geht, wie mir. Das ist das Erste, was ich brauche. Eine Gang, der ich mich anschließen kann. Ohne einer Gruppe von anderen, die schon länger auf der Straße leben, werde ich wohl kaum überleben können. Und ich muss nicht lange suchen. Nach nicht einmal zwanzig Minuten stoße ich auf vier Jugendliche, alle ungefähr zwischen siebzehn und zwanzig. Sie sitzen in ihre Schlafsäcke gewickelt unter dem Dach eines Einkaufsladens und rauchen. Dazu steht neben dem einen eine halbleere Flasche Wodka und neben dem anderen eine Packung von den billigen Chips, die so schmecken wie Holzspäne. Ich setze mich an den Rand der Gruppe, schweige. Das ist die Regel. Nicht reden, bis ich gefragt werde. Ich bin nicht zum ersten Mal in so einer Gruppe. Früher habe ich tagsüber mit ihnen abgehangen. Sie waren meine Freunde. „Hey.“ Mich begrüßt einer der Jungs. Als er aufsteht, erstarre ich. Er ist mindestens zwei Meter groß. Auch ich erhebe mich, und komme mir mit meinen kaum einen Meter fünfzig irgendwie vor, wie eine Ameise neben einem Elefanten. „Hi...“, sage ich leise. Ich darf nicht schüchtern wirken. Das macht es nur noch schlimmer. Ich räuspere mich. „Hi“, wiederhole ich, dieses Mal laut und deutlich. Ich sehe, wie mich der Große mustert. Er sieht die anderen Jungs an. Einer nach dem anderen nickt. Dann sieht er mich noch einmal an. Langsam nickt er. Ich atme erleichtert durch, und lasse mich neben ihn auf den Boden fallen. Ich werde akzeptiert. Ich darf bleiben. Vorerst.

On the road- Kinder der StraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt