Ich wollte nicht tanzen. Ich wusste ja, dass das alles wieder hervorrufen würde. Aber ich hatte keine andere Wahl. Schon nach zwei Sekunden war ich von Ingas Musik gefangen. Ein derartig heftiger Gefühlschwall drängte sich mir entgegen, ich konnte nicht anders, ich musste tanzen. Die Musik trug mich, wie auf Flügeln durch die leere Halle, meine Bewegungen passten sich ganz automatisch jeder Veränderung der Musik an. Obwohl ich es davor noch nie gehört hatte, fühlte es sich vertraut an. Es war einfach wunderschön! Ich tanzete und tanzte und tanzte! Dann änderte sich die Tonlage, Unglauben und Verzweiflung schlugen sich mir entgegen, gefühle, die ich nur zu gut kannte. Und schon schwappte die ganze Vergangenheit über mich hinein: mein Schmerz, meine Unsicherheit, meine Zerrissenheit. Und ich tanzte, als könne ich damit entfliehen. Doch in Wahrheit stellte ich mich endlich diesen schrecklichen Gefühlen. Ich spürte alles nochmal aber diesmal behielt ich es nicht für mich, diesmal erzählte mein Tanz meine Geschichte. Jetzt wo die letzten Töne verklungen sind liege ich am Boden, körperlich und psychisch fertig, aber auf igendeine Weise erleichtert. Ich sehe auf, zu Inga und Sam. Inga mit leicht abwesendem Blick und tränennassen Wangen, Sam, überwältigt lächelnd und mit großen, strahlenden Augen. Keiner sagte ein Wort. Es herrschte wunderbare Stille. Aber jetzt sah ich den Moment gekommen, es ihnen zu erzählen.
"Damals... das war etwa 5 Monate bevor wir weggezogen sind... hatte ich einen Tanzlehrer, der sehr bekannt war. Wenn er einem Einzelstunden anbot, hatte man diese anzunehmen, sonst war man schon ziemlich dumm. Und natürlich nahm ich sie an, als er sie mir anbot. Die ersten paar Wochen war alles normal, also was heißt normal, so ein Einzeltrainig ist ganz was anderes als mit der Gruppe... Naja... später dann hat er angefangen mich... sagen wir unnötig zu berühren. Klar, beim Tanztraining lassen sich Berührungen nicht vermeiden, aber er übertrieb es eben. Anfangs war ich mir noch nicht sicher, es waren schließlich auch meine ersten Einzelstunden und ich wusste nicht ob das nicht vielleicht doch normal war. Nunja, leider wurde er immer zudringlicher und dann hab ich ihm auch gesagt, dass ich das nicht will. Aber er hat nicht aufgehört. Im Gegenteil, er hat gesagt, wenn ich irgendwem was erzähle sorgt er dafür, dass ich karrieretechnisch ganz nach unten komm, und glaubt mir, das hätte er gekonnt. Hätte er Ernst gemacht, ich wäre nirgendwo im Umkreis mehr angenommen worden. Und, naja, vielleicht klingt das jetzt irgendwie doof, aber ich wollte das auf jeden Fall verhindern. Ich wollte meine Mutter nicht enttäuschen und ich selbst wollte das Tanzen auch nicht verlieren. Ich ging also weiterhin jede Woche einmal zum Einzeltraining. Ich fing an mich davor zu fürchten, ich hasset es irgendwann wie die Pest, aber ich ging weiter hin. Eines Tages übertrieb er es aber so sehr dass ich nicht anders konnte als weglaufen. Ich rannte so schnell wie möglich weg und schwor mir nie wieder diese Tanzschule zu betreten. Als meine Mum mich völlig aufgelöst fand, sagte ich ihr, ich wolle nur weg, umziehen... warum, das konnte ich ihr nicht sagen. Aber zum Glück hatte sie hier sowieso eine Stelle angeboten bekommen und mit etwas betteln hatte ich sie recht schnell überredet. Wir beide hatten auch nicht gerade viele Freunde in unserer alten Stadt. Jedenfalls... hier ist alles besser, auch meine Mum hat sich hier schon gut eingelebt. Und... zum Glück ist das mit dem Tanzen jetzt auch ein für alle mal geklärt...."
Wieder Stille. Inga geht auf mich zu und umarmt mich, in ihrem Blick Verständnis, Wärme und gar nicht so viel Mitleid, wie ich gedacht hatte. Auch Sam kommt jetzt dazu. Wir warten eine Weile, bleiben einfach so stehen. "Darf ich troztdem sagen, dass du wundervoll getanzt hast?" flüstert Sam und lächelt. Ich lächle zurück. "Ja.... danke..." und dann "das Lied war unglaublich, Inga!" "Danke" sagt auch Inga "Mein Großvater hat es geschrieben und ich habe es etwas umgeändert und den letzten Teil ... nach seinem Tod dazukomponiert... ich... hab ihn wirklich sehr gemocht..." Und so sitzen wir jetzt vermutlich noch ne Weile hier in der Turnhalle, aneinandergelent, jeder seinen eigenen Gedanken nachgehend aber, auf irgendeine Weise, auch jede für die andere da. Und das ist irgendwie einfach wunderbar....
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Together oder wie man lernt, ohne Flügel zu fliegen
Teen FictionTamara, Sam und Inga treffen in der 10. Klasse das erste Mal aufeinander. Obwohl sie völlig unterschiedlich scheinen, verstehen sie sich gleich ziemlich gut. Und schneller, als sie je geglaubt hätten entsteht zwischen ihnen eine Freundschaft, die je...