Prolog

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Die Spätsommersonne verlieh den sanften Hügeln der Toskana einen fast kitschig-schönen Schein. Jetzt, nachdem die Schulferien vorbei und die Familien mit Kindern abgereist waren, verblieb nur eine kleine Schar Urlauber, die ihren Aufenthalt umso mehr genossen. Gemeinsam mit den Einheimischen bevölkerten sie die Plätze in den gemütlichen Gastgärten entlang der Straße, Karaffen des dunklen, schweren Hausweines und Knabbereien auf den Tischen. Hinter ihnen bogen sich die Weinstöcke schon mit prallen Trauben, bereit für die Ernteeines sicherlich wieder exzellenten Jahrganges.

Mini bekam nichts von alledem mit. Sie sah nur die rot-weiß-grüne Flagge in der hochgestreckten Hand des Starters und das schmale Asphaltband der Strada regionale chiantigiana, das sich vor ihr in die Berge hinein erstreckte. Die leere Straße rief nach ihr, verführerisch und einladend wie eine Sirene.

‚Meine', dachte sie, ‚meine ganz allein'. Unruhig zuckte ihr rechter Fuß über dem Gas, während ihre Linke so kräftig das schwergängige Kupplungspedal nach unten trat, dass sich ihr Unterschenkel schmerzhaft zusammenzog. Noch drei Sekunden.

Ihr ganzer Körper vibrierte mit der gezügelten Kraft der 250 Pferdestärken unter ihr.

Noch zwei. Ab hier zählten nur noch antrainierte Reflexe. ‚Jetzt fang vorsichtig an, mit der Kupplung zu spielen, finde den richtigen Druckpunkt, lass sie langsam kommen.'

Eins.

Die Fahne fiel und die Straße gehörte ihr.

Der Start gelang ihr gut, nicht perfekt, aber immerhin besser als beim letzten Rennen. Dort hatte der Marshall hinter ihr den Bremsblock zu früh weggezogen und ihr ein paar wertvolle Zehntel gekostet. Die ersten Kurven nahm sie nach dem tagelangen Training auf der perfekten Linie, auch wenn die Anfangspassage nicht unbedingt der Teil der Strecke war, auf dem sie die Stärken ihres Autos ausspielen konnte. Für sie begann der Spaß nach Kurve vier. Unter ihrem weißen Helm grinste Mini breit, als sie vor sich die erste lange Gerade sah, auf der sie die Pferdestärken ihres Lancia Delta Integrale HF Evo II endlich auf die Straße bringen konnte. Energisch drückte sie das Gaspedal auf den Boden und warte auf das süße Singen des Turboladers. Bei der richtigen Drehzahl würde der Turbo ihren Wagen mit einem kräftigen Ruck auf die höchste Geschwindigkeit katapultieren, die die Bergstrecke erlaubte. Sie wartete. Und wartete. Statt der Overboost-Lampe, die normalerweise auf der Geraden ansprang, um die volle Nutzung ihres Ladedrucks zu symbolisieren, blinkten plötzlich auf ihrem Armaturenbrett unheilvolle rote Warnlichter hektisch auf wie auf einem Christbaum.

„Oh verdammt!", entfuhr Mini ein kurzer Fluch, bevor ihr jahrelanges Training wieder das Kommando übernahm. Der Turbo war wohl im Eimer, aber der Motor lief wenigstens noch. Zögerlich und bockig und mit der Leistung einer Familienkutsche, aber er lief.

Sie brauchte einen Punkt, einen einzigen, und bei der Anzahl von bisherigen Ausfällen in ihrer Gruppe würde es dafür reichen, wenn sie es ins Ziel schaffte. Sie musste den Wagen nur irgendwie nach oben bringen, und wenn sie eine halbe Stunde Minuten für 8 km brauchte.

In Kurve vierzehn sah Mini zum ersten Mal seit Jahren die blaue Flagge vor sich geschwenkt. Schnellers Fahrzeug überholen lassen. Hervorragend, und wie stellte sich der Streckenposten vor, dass sie das hier anstellen sollte? Rechts von ihr grenzte die Fahrbahn direkt an eine mit knorrigen Büschen bewachsene Steinmauer, links von ihr trennte sie nur eine Leitplanke vor einem tiefen Fall in einen Weingarten. In ihrem Rückspiegel wurde die weiß-blaue Front des nach ihr gestarteten VW Rallye Golfs immer breiter. Ihr blieb keine ander Wahl, wenn sie den Instruktionen des Streckenpostens Folge leisten wollte. Zähneknirschend lenkte sie ihren Rennwagen nach rechts in Richtung der Mauer und hoffte inständig, dass das Gestrüpp nur ihre Beklebung und den Lack darunter zerkratzen würde.

MonopostoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt