Kapitel 5

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„Sind sie angekommen?" Obwohl es Anfang April war, fühlte sich Michelle wie ein Kind vor der Bescherung, als sie Samstag früh pünktlich um 7 Uhr die Tür zu ihrer Werkstätte aufriss.

Nick, der wie gewöhnlich schon fleißig bei der Arbeit an ihrem Projekt war, kroch bei ihrem überschwänglichen Eintritt unter der Hebebühne hervor. „Was?" grinste er sie unschuldig an, während er seine ölverschmierten Hände abwischte. „Ach, du meinst, deine neuen Sachen von Llandow Auctions. Schicke Klamotten haben die geschickt. Helm, Anzug, Schuhe ..."

Sie verdrehte ihre Augen? Wen interessierten denn neue Rennkleidung? Auto, Auto, Auto! „Oh, ha ha, sehr witzig. Du weißt, was ich meine."

„Ach, die alten Karren. Ja, die wurden gestern angeliefert mit einem noblen Transporter, der übrigens hinten im Hof steht. Ich habe sie sicherheitshalber hinüber in die kleine Halle gebracht..."

Bevor Nick seinen Satz beenden konnte, machte sie schon auf der Schwelle kehrt und rannte in Richtung ihrer zweiten Garage. Dort, zwischen Ersatzteilen, die sie längst verkauft hätte, wenn sie nur wüsste, zu welchen Fahrzeugen die Dinger gehörten, standen zwei nagelneue Rennwagen.

„Neu" war nicht ganz das richtige Wort. Beide Boliden hatten locker mehr als vierzig Jahre auf dem Buckel, aber die sah man ihnen nicht an. Technisch waren die Fahrzeuge auf den ersten Blick in einem neuwertigen Zustand; beide Einsitzer waren frisch lackiert und glänzten, dass sie sich zuerst kaum traute, sie anzufassen. Fast andächtig schlenderte sie um die beiden Fahrzeuge und inspizierte näher, was ihre walisischen Wohltäter ihr vorbeigebracht hatten. Die Formel Ford Rennserie war über Jahrzehnte eine erfolgreiche Nachwuchsformel für junge Talente gewesen, in der viele spätere Weltmeister ihre ersten Gehversuche gemacht hatten. Die Fahrzeuge waren billig und technisch simpel, ohne große aerodynamische Hilfsmittel, damit sich die jungen Fahrer auf aas Wesentliche konzentrieren konnten. Der Motor war den Teams vorgeschrieben, Chassis-Hersteller gab es allerdings einige zur Auswahl. Mini hatte sich inzwischen über ihr neues Auto schlaugemacht. Die beiden Fahrzeuge waren Merlyns, vor allem in der Clubszene beliebt, weil die Chassis billiger waren als die ihrer Konkurrenten. Die Wagen sahen aus, wie sie sich ein Rennauto vorstellte: schmal, elegant, dazu schnell, leicht, ohne viel Schnick-Schnack. Ein neutraler Beobachter hätte die Autos wahrscheinlich wenig schmeichelhaft als fahrende Todesfalle bezeichnet. In den vermeintlich goldenen Zeiten des Motorsportes hatte man sich noch kaum Gedanken über die Sicherheit gemacht. Ein klein bisschen lebensmüde musste man schon sein, um mit diesen Geräten schnell zu fahren. Oder zumindest einfallslos genug, um sich nicht ausmalen zu können, auf welche verschiedenen Arten man in den Wagen umkommen konnte.

Auf den ersten Blick unterschied die beiden Merlyns nur die Farbe. Michelle erkannte in der Lackierung deutlich das Logo von Llandow Auctions wieder - einmal Rot mit weißem Streifen in der Mitte, einmal Weiß mit roten Akzenten. Über dem noch leeren, weißen Kreis für die Startnummer prangte in jeweils umgekehrter Farbgebung ein stilisierter Drache.

„Welcher davon", fragte sie Nick, der ihr inzwischen gefolgt war, „ist meiner?"

„Darfst du dir aussuchen."

„Ernsthaft jetzt?"

„Ernsthaft. Du fährst das erste Rennen, du hast die erste Wahl. Die einzige Bedingung ist, dass du das Auto, das du in Sankt Andrä fährst, für den Rest der Saison behalten musst." Das war keine einfache Entscheidung. Kritisch musterte sie die Fahrzeuge. Wie sollte sie rausfinden, welches das Bessere war?

„Hast du dir die beiden schon genauer angesehen?"

Nick rollte mit den Augen. „Ich habe die Dinger seit gestern Abend, wann soll ich die den zerlegt haben? Angeblich sind die beide gleich."

MonopostoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt