Im Unglück der Welten (Kurzgeschichte)

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Durch diese schöne Anstrengung wurde er mit sich selbst bekannt. Existiert man nur mehr zur Hälfte, wird ein Hügel zum Gebirge. Doch er wusste, wer er war. Und er kannte sein Vorhaben. Anstrengung im Ernst des Lebens? Schön und gut. Aber besser war das uneingeschränkte Austoben im Spiel. Er wartete nun schon so lange auf die Erleichterung nach der Anstrengung, die Freiheit. Er wollte das Wasser riechen, den Wind hören und die Wolken spüren. Die Tornadowarnung ließ ihm das Adrenalin nur noch schneller durch den Körper schießen.

Seine Augen waren geschlossen. Und niemand wusste es. Niemand wusste von den Klippen. Und niemand bemerkte den Wind, der die scheinbar menschliche Gestalt nicht als Hindernis betrachtete und versuchte ihn vom Rand zurückzudrängen. Zurück zum Boden der Tatsachen zu bringen. Denn beinahe flog er wieder. Mit dem unruhigen Meer unter der Haut. Das Wasser unter seinen Füßen schien wie eine kleine Pfütze. Einen Schritt vorwärts und er könnte in die Lache eintauchen. Sie würde sich schwarz verfärben und er wusste es schon lange. Seine sündige Seele war hydrophil, denn noch nie war er einer Anforderung gerecht geworden.

Er begutachtete das niemals endende Kreiselspiel auf dem schwankenden Spiegel. Und er amüsierte sich. Er wollte Teil des Schauspiels sein, bevor er sich hinter die reflektierende Glasfläche begeben wollte. Die Kreisel vereinten sich. Der Spiegel verlor allmählich die Schärfe seiner Abbildung und wurde eins mit der Treppe, die hinauf zum oberen Tor führte. Er bemerkte, er konnte nun beide Welten erkunden. Den Ausblick auf der höchsten Stufe der Wendeltreppe betrachten, ein letztes „Auf nie mehr Wiedersehen" summen und im Klar des verschwommenen Spiegels sehen lernen.

Er war es leid, seine Bestimmungen nie erfüllen zu können. Er wollte doch nur etwas Gutes tun. Immer hatte er versucht, in der Mitte der beiden Welten zu bleiben und diese voneinander fernzuhalten. Eine Trennung zwischen Gut und Böse zu schaffen. Doch die Schwerkraft hatte seine Bitte nicht erhört. Ohne seinen Federmantel war es ohnehin nicht möglich gewesen. Er hatte so wichtige Aufgaben und trotzdem war er immer nur die Person hinter dem Schatten gewesen. Er wollte nie geführt werden. Er wollte führen. Doch solange er lebte, hatte sich die Erde angefühlt wie ein Würfel, der unendlich oft geworfen worden war. Er fiel zu oft und landete nie auf der gleichen Zahl. Nun sollte diese Welt sein Schicksal zum allerletzten Mal besiegeln.

Er wandte sich dem Tornado zu und war diesem bereits so nah, dass er in ihm versinken konnte. Kein Blitz war in Sicht, der Würfel musste also auf null gelandet sein. Ausgeglichen. Seine Chance, um beide Welten gleichzeitig zu erreichen. Seine Aufgabe würde für immer unerledigt bleiben, doch das kümmerte ihn nicht mehr. Himmel und Hölle würden sich endlich vereinen. Allmählich war diese unerträgliche Beengtheit spürbar. Das Tor neigte sich hinab und spiegelte sich in den nun nur mehr verbliebenen Scherben.

Doch plötzlich brach ein ungeahntes Schicksal über ihn herein. Er spürte, wie sein zweiter Flügel wie ein Magnet nach oben gezogen wurde. Er wollte dieser Attraktion folgen, aber eine gewaltige Wucht riss ihn in dem Wirbel nach unten. Sein Flügel brach. Und die Splitter verschlangen ihn, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen.

Von nun an war er kein Engel mehr. Und auch kein Mensch. Er war nur mehr Teil der universellen Existenz. Auf der Sandstraße des Meeres liegend, mit nach oben gewandtem Blick. Dabei wollte er als jemand Besonderes sterben.

(562 Wörter)

°•.𝖛𝖆𝖈𝖚𝖚𝖒 𝖎𝖓 𝖒𝖞 𝖑𝖚𝖓𝖌𝖘.•°Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt