Endliches Leben (Kurzgeschichte)

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Als er die Treppe hinabstieg, packte ihn mit einem Mal wieder diese sinnlose Angst.

Es war eine gute Entscheidung von Miruta, ihn vor die Tür zu setzen, damit er nicht wieder rückfällig werden konnte. Aber er hatte Angst. Tommaso wusste, der Tod würde ihn verfolgen. Er würde schon längst das Zimmer neben Tommaso, das schon Jahre leer stand, da es einmal seiner Freundin gehört hatte, bezogen haben und nur noch auf den richtigen Moment warten, bis es endlich so weit sein würde. Aber Tommaso wollte die Zeit immer weiter hinauszögern, er wollte sie nicht verlangsamen, er wollte sie stoppen. Nein, er wollte die Zeit zerstören. Denn sie war das einzige, gegen das er sein Leben lang kämpfte. Er wollte die Zeit nicht zurückdrehen, das würde ihn zu sehr anstrengen, dachte er. Aber er wollte die Zeit auch nicht vordrehen, um in der Zukunft zu leben. Er wollte diese Momente, die jetzt passierten, nichts anderes.

Es war wie eine Sucht. Aber Tommaso wollte und konnte nicht loslassen. Er war daran gebunden, konnte den Fesseln der Unsterblichkeit nicht entkommen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, alles aufzugeben. Deswegen ließ er seine Gefangenschaft, diese Sucht nach unendlichem Leben, mit der Zeit zu. 

Denn plötzlich weg zu sein, nicht mehr zu atmen, nicht mehr zu denken, machte ihm noch mehr Angst, als an der Oberfläche des reißenden Fluss unendlichen Lebens zu schwimmen. Tommaso wusste, eine Sucht konnte besiegt werden, solange man es wirklich wollte. Aber das machte ihn eben so unsicher. Er wollte nicht abhängig sondern unabhängig sein. Er wollte selbst wissen, was er tat und nicht von etwas anderem beherrscht werden, das die vollständige Kontrolle über seine Psyche und seinen Körper hatte. Aber er wollte nun mal auch nicht sterben. Dieses Dilemma raubte ihm fast den Verstand.

Was würde nach dem Tod überhaupt sein? Leere? Dunkelheit? Einsamkeit? Er konnte damit nicht umgehen. Schon alleine bei dem Gedanken, dass er geboren wurde um zu sterben, ließ sein Herz rasen, ließ ihn nicht schlafen, ließ ihn nicht glücklich sein. "Aber so ist das Leben nun mal. Irgendwann ist deine Zeit abgelaufen, auch meine wird es einmal sein. Mach dir darüber nicht so viele Gedanken, es tut bestimmt nicht weh." Auch die Worte seiner Mutter trösteten ihn kein bisschen, es wurde nur noch viel schlimmer.

Eines Tages begegnete er einer Frau, zirka in dem gleichen Alter wie er. Sie merkte, dass mit Tommaso etwas nicht stimmte und sprach ihn darauf an. Er erzählte ihr von seiner Verzweiflung, von den tagtäglichen mentalen Schmerzen, mit denen er zu kämpfen hatte, von dieser ständig brodelnden Angst. Und diese Frau, Miruta, wusste ganz genau, was Tommaso brauchte. Den Saft des seltenen Tausendgüldenkrauts, dass ihm die Kraft verlieh, seine Zeit auf Anfang zu stellen. Zuerst zögerte Tommaso, aber schlussendlich trank er den Saft doch. Und nach einer Zeit merkte er, es wirkte. Und jedes Mal, als er spürte, seine Zeit würde bald enden, machte er sich auf den Weg zu Miruta, die ihm das Tausendgüldenkraut immer wieder verschaffte, ohne sich eine Gegenleistung zu erwarten. Er sah, wie seine Familie, seine Freunde und alle Bekannten gingen und bei jedem einzelnen Tod schmerzte es ihn, aber er kam darüber hinweg. Solange er noch am Leben war und es auch immer sein würde, war alles in bester Ordnung. Dieses Gefühl ließ ihn aufblühen, so konnte er endlich beruhigt und glücklich sein.

Aber heute wollte Miruta nicht. Heute hatte sie keine Zeit, keine Lust und keine Kraft. "Komm morgen wieder", sagte sie, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte. "Morgen", lachte er verzweifelt gegen die Tür, "morgen wird es schon zu spät sein."
Was war heute nur mit Miruta los? Warum ließ sie ihn so einfach sterben?!

Tommaso wusste, dass er nicht nur ein Bekannter von Miruta war, denn die zwei verstanden sich normalerweise sehr gut. Man konnte schon fast sagen, sie waren Freunde. Zwar begegneten sie sich fast nie, wenn Tommaso sein neues Leben lebte, aber es war schon so oft passiert, dass er vor ihrer Tür stand, sie ihn hineinließ und sofort wusste, was er wollte. Also verließ er sich bereits auf sie. Miruta hielt ihr Wort immer. Aber heute geschah alles ganz anders. Für gewöhnlich hatte sie nie viel zu tun, deswegen machte Tommaso diese Reaktion so misstrauisch.

Er machte keine Anstalten zu gehen und Miruta in Ruhe zu lassen, er brauchte den Saft des Tausendgüldenkrauts unbedingt. Doch egal, wie oft er läutete und klopfte, keiner machte ihm auf. Es fühlte sich an, als wäre er ausgesperrt aus seinem eigenen Leben. Doch war das denn nicht, was er wollte? Ausgesperrt sein aus seiner Existenz, ausgesperrt aus der Zeit, aus dieser Sucht, die ihn kontrollierte? Ja, er wollte es! Er wollte frei sein!

Doch als er die Treppe hinabstieg, packte ihn mit einem Mal wieder diese sinnlose Angst. Diese Angst war so sinnlos, wie seine verschwendete Kraft im Kampf gegen die Endlichkeit.

(815 Wörter)

°•.𝖛𝖆𝖈𝖚𝖚𝖒 𝖎𝖓 𝖒𝖞 𝖑𝖚𝖓𝖌𝖘.•°Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt