Bin ich mutig genug? (Kurzgeschichte)

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Ich höre hektisches Stimmengewirr. Über mir, unter mir, neben mir. Mir ist schwindelig und ich fühle mich so unendlich schwach. Es fühlt sich so an, als würde ich fallen. Alles um mich herum zieht mich nach unten. Es erdrückt mich. Es lässt mich nicht mehr atmen, es frisst mich auf. Doch das ist gut so. Ich gehe diesen Weg zum ersten Mal, aber ich weiß genau, wo er hinführt. 

Wer leben will, muss sterben.

Geräusche, die ich wahrnehmen kann, verblassen langsam. Schmerzen, die ich in und an mir habe, werden taub. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon gewonnen habe. Ich will, dass mich keiner mehr festhält, dass mich keiner von meinem sehnlichsten Wunsch abhält. Ich muss es einfach schaffen. So lange habe ich gezögert und meine Gedanken darüber verschwendet, anstatt es einfach zu tun. Meinen ganzen Mut zusammenzunehmen und es einfach durchzuziehen. Ich habe mit meinem Körper gespielt, doch endlich wird mein Geist siegen, denn in meinem Herzen ist schon lange ein stilles Vakuum.

Ich spüre, wie jemand meine rechte Hand nimmt. Die Hand der Person ist kalt und rau. Mom, denke ich. Ich habe sie nie verlassen wollen. Aber ich habe keine andere Wahl gehabt. Eigentlich kann sie stolz auf mich sein, weil ich ein Mal in meinem Leben Mut gehabt habe. Denn normalerweise bin ich ein sehr schüchterner und zurückhaltender Mensch. Aber ich würde es verstehen, wenn sie es nicht ist. Vielleicht ist das, was ich getan habe, nicht mutig gewesen, sondern schwach. So schwach, dass mir das Leben zu schwer gewesen ist, dass ich vergessen habe, dass dieser Körper mir gehört, dass ich selbst es bin, gegen den ich die ganze Zeit kämpfe. So schwach, dass ich alles um mich vergessen habe und nur mehr das Tier in mir töten wollte. Meine Mom wäre bestimmt stolz, mich glücklich sehen zu können, voller Lebenslust und Selbstliebe sehen zu können. Ich will sie davon überzeugen, dass ich es kann, dass ich den Mut dazu habe, zu leben, auch, wenn es mir schwer fällt, da ich mich selbst nicht unter Kontrolle habe. Aber mit ihrer Hilfe kann ich es doch schaffen, oder?

Ein langer, schriller Ton erklingt in meinen Ohren. So lange, bis ich wieder falle und falle und falle und die Dunkelheit um mich kein Ende mehr findet. So lange, bis ich die schmerzerfüllten Schreie des Tieres in mir höre, dass ich besiegen wollte. So lange, bis mir bewusst wird, was ich nun für immer bereuen werde.                                              

(408 Wörter)

°•.𝖛𝖆𝖈𝖚𝖚𝖒 𝖎𝖓 𝖒𝖞 𝖑𝖚𝖓𝖌𝖘.•°Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt