Gefangen in der Gewohnheit (Kurzgeschichte)

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Ich stehe am Fenster, aus dem sich die Bedrücktheit ihren Weg nach draußen sucht. Er lacht, doch ich weine. Am Boden eine Lache. Der Schiffsmast ist mir im Weg, so sehe ich nur mehr die Angst, doch nicht mehr die Gewohnheit, den Wald neben dem Birkensee. Auch der Himmel ist zu klar, ich wünschte, es würde stürmen.

„Bitte verlass' mich nicht“, denke ich nun schon seit Tagen, aber es laut auszusprechen würde an seiner Entscheidung nichts ändern. Lieber will ich ihn in den Wellen der Neugier ertrinken sehen, als ihn gehen müssen zu lassen. Was ist, wenn ich ihn nicht mehr zurück kommen lasse? Ohne ihn bin ich zwar ein Niemand, aber wird es noch genau so sein, wie vorher?

Aaron liebt das Abenteuer, das Neue, das Unbekannte. Ich hingegen halte gerne an Gewohnheiten und der Tradition fest. An dem Vorhersehbaren. Bis jetzt war dies noch nie ein Thema in unserer Ehe. Wir haben uns am Birkensee ein Seehaus gesucht und dort eine Gewohnheit aufgebaut. Er hat dennoch schon immer sein Abenteuer in Hobbys ausgelebt. Zuerst in der Kulinarik, später in der Malerei. Danach im Holzhandwerk, zuerst schnitzte er, dann fing er an Schiffe zu bauen. Solang er bei mir war, war die Welt in Ordnung. Aber nun will er nicht mehr hier bleiben. Er will die Welt sehen, allein, sein Schiff als einziger Begleiter.

Wenn er weg ist, wird sich das Wasser im See drehen. Ich werde es nur mehr kopfüber sehen. Es wäre trüb, statt klar. Unser Haus ertrinkt immer mehr, je länger ich am Fenster stehe und meine Gedanken wie eine Fliege immer wieder im Zimmer umher fliegen, da sie zu verwirrt sind, um hinaus in die Freiheit, in die große Welt, ins Unbekannte zu flüchten. Vielleicht lacht Aaron, aber würde jetzt am liebsten weinen. Fühlt er sich gefangen, bei mir? Mit mir?

Es wird langsam dunkel. Noch immer stehe ich am offenen Fenster. Kalt ist mir nicht, obwohl der Wind weht. Meine Wangen sind taub. Meine Füße nass. Ich hätte ihm unser letztes gemeinsames Abendessen kochen sollen, aber Abschiede fallen mir zu schwer. Wir werden wohl beide mit leerem Magen ins Bett gehen. Die Gewohnheiten schwinden und ich sollte mich daran gewöhnen, dass nichts mehr so sein wird, wie es immer war. Zeit wäre das einzige, was ich nun bräuchte. Doch das Wasser im Meer hört nie auf zu fließen. Der See hingegen wäre zeitlos. "Bleib bei mir", versuche ich ein allerletztes Mal zu denken. Doch die Gewohnheit lässt ein letztes Mal nicht zu, es wird ein "für immer" bleiben. 

(424 Wörter)

°•.𝖛𝖆𝖈𝖚𝖚𝖒 𝖎𝖓 𝖒𝖞 𝖑𝖚𝖓𝖌𝖘.•°Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt