Zoe ♡

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Oh mein Gott, oh mein Gott! Wie erstarrt blieb ich hinter der Tür stehen. Ich hatte sie erst vor ein paar Sekunden hinter mir zugezogen und hatte Hannah davor verabschiedet. Sie war jetzt wieder auf dem Weg zu ihr nach Hause, was nur ein paar Straßen von hier entfernt lag.

Ihr Haus, das Haus und die Familie meiner Schwester, meiner Zwillingsschwester. Ich glaubte wirklich, ich träume, aber genau in dem Moment kam mein Bruder aus dem Wohnzimmer.

„Sag mal, was sollte das denn? Den Baum hab ich dann jetzt alleine geschmückt!" Er stemmte die Hände in die Hüfte.

„Tut mir leid, ich habe draußen eine alte Klassenkameradin gesehen und mich dann jetzt mit ihr unterhalten, sie fährt nämlich morgen wieder nach Hause."

„Na schön, sag nächstes Mal wenigstens Bescheid." Murrend verschwand er nach oben in sein Zimmer. Zähneknirschend folgte ich ihm und stieß meine Zimmertür auf. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und atmete tief durch.

Ja, es hatte einen Grund gehabt, warum ich meinen Bruder gerade angelogen hatte, obwohl ich sonst nicht der Typ für sowas war. Hannah und ich hatten abgesprochen, unseren Familien nichts davon zu sagen. Es musste ja einen Grund gegeben haben, warum wir nicht zusammen aufgewachsen waren, den wollten wir aber noch nicht wissen, ohne uns besser kennengelernt zu haben.

Deswegen hatten wir uns für morgen Vormittag verabredet. Sie würde um 11 Uhr hier vor der Tür stehen, ich würde meinen Eltern sagen, ich wäre Eislaufen und wir würden gemeinsam zu einer Hütte hier ganz in der Nähe gehen, die sie kannte und in der sie wohl sehr oft war.

Ich wusste das alles, wir hatten uns gefühlt zehntausendmal gegenseitig versichert, dass wir nicht träumten und dass wir uns aufeinander verlassen konnten, und das glaubte ich auch. Ich kannte sie zwar erst seit einer Stunde, aber sie war wie ich, was konnte da dann noch schiefgehen?

Ich musste sie morgen unbedingt fragen, was es mit ihrer Gesichtsmaske auf sich hatte, falls sie die auch im wirklichen Leben trug. Und ich musste sie nach dem Schlittschuhfahren fragen. Und ich musste sie fragen, warum sie beim Donnergrollen weggelaufen war, falls man das auch mit der Wirklichkeit vergleichen konnte. Und nach ihren Eltern, nach ihrem Bruder, nach ihrer Familie, nach ihrer Kindheit, nach einfach allem Möglichen. Ich wollte alles wissen, ich musste alles wissen, ich brauchte Antworten, die ich nur von ihr bekommen konnte.

Ich versteckte mein Gesicht hinter meinem Kissen, ich fragte mich echt nach dem „Warum". Ich weiß, ich habe gerade eben erst erwähnt, dass ich meine Eltern vorerst nicht fragen wollte, was ich auch nicht tun würde, aber trotzdem, ich hatte so viele Fragen. Es musste morgen werden, es musste der nächste Tag sein, es musste 11 Uhr sein. Sonst wusste ich nicht, ob ich die nächsten Tage überleben würde. Ich hoffte einfach nur, dass sie morgen da sein würde, dass es wirklich real war. Ich weiß, wie oft ich dieses Wort jetzt schon erwähnt habe, aber es war für mich nur so eine große Frage. Ob ich nicht einfach morgen aufwache, niemand draußen auf mich wartet und mir dann einfällt, dass ich alles nur geträumt habe. Davor hatte ich Angst.

Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich in der Nacht überhaupt nicht gut schlafen konnte. So gegen halb drei schreckte ich hoch, vollkommen verschlafen, aber trotzdem hellwach, mein Herz pochte wie verrückt. Verdammt, hatte ich verschlafen?! Nein! Es war ja gerade mal halb drei.

Stöhnend ließ ich mich zurück in meine Kissen fallen und zog die Decke bis zur Nasenspitze. Der Mond schien hell durch das Fenster und erleuchtete mein Zimmer, es war ein gemütliches Licht und doch machte es mich nervös. Ich stand schließlich auf und zog die Vorhänge zu.

Wie ein kleines Kind blieb ich dennoch am Fenster stehen, starrte hinaus und beobachtete die Sterne. Wie sie da oben am Himmel funkelten, so verdammt weit weg und unerreichbar waren und man sie trotzdem sehen konnte, einfach nur weil sie so verdammt groß und hell waren. Und wichtig, ja für mich waren sie wichtig.

Ich hatte früher mal eine Sternschnuppe gesehen, mir etwas gewünscht und genau das ist passiert. Seitdem waren Sterne nicht einfach nur Sterne für mich. Es waren helle Funken, die da oben mein Leben bestimmten, die bestimmten, was passierte, die bestimmt hatten, dass ich meine Zwillingsschwester treffe, dass ich überhaupt eine hatte. Ich glaube wirklich, alles hängt von den Sternen ab. Was wäre denn bitte die Nacht ohne Sterne? Das wäre ja so viel wie ein Sommerurlaub ohne Sonne, total langweilig und öde, und farblos, emotionslos. Ich starrte in den Himmel, ich weiß nicht, ich verband damit so ein großes Gefühl, so ein wichtiges Gefühl, einfach unbeschreiblich.

Da, plötzlich tauchte wirklich eine Sternschnuppe auf, hell und glänzend erschien sie am rabenschwarzen Himmel. Sie zog sich über den gesamten Bereich, den ich von meinem Fenster aus sehen konnte und verschwand hinter den Bergen, die bis in die Wolken zu ragen schienen. Wünsch dir was! Mein Kopf schaltete sofort wieder in die Gedanken des kleinen Mädchens um, dass abergläubisch war, dass Sterne liebte und schon immer geträumt hatte, mal einen von oben sehen zu können.

Ich wusste genau, was ich mir wünschen würde, in der unglaublich großen Hoffnung es würde wahr werden. Im Stillen schickte ich einen Luftkuss nach oben in den Himmel und hoffte wirklich, den Sternen würde es irgendetwas bringen.

Lächelnd legte ich mich zurück ins Bett, kuschelte mich in meine Decken und Kissen und schlief schließlich ein.

Winter des TodesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt