Kapitel 1

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Mads

Als Mads zwei Jahre alt war lernte er zum ersten Mal, was körperliche Unterlegenheit bedeutete. Es bedeutete, dass nicht er den letzten Keks bekam, sondern seine ein Jahr ältere Schwester Adahlia.

Den Keks nicht zu bekommen war ein niederschmetterndes Erlebnis für den kleinen Jungen mit den dunkelgrünen Augen und den karamellfarbenen Locken. Dieselbe Farbe wie das zarte Fell an seinen großen Wolfsohren. Er weinte bitterlich, doch auch das verschaffte ihm nicht den Keks.

Dieses Erlebnis blieb ihm lange in Erinnerung.

Mit sieben Jahren beobachtete er zum Ersten Mal eine der großen Raufereien der jugendlichen Wölfe. „Was machen die?", fragte Mads seine Schwester, die gelangweilt ihre langen Locken zu Zöpfen flocht.

„Kämpfen", murmelte sie und sah zu ihren Eltern, die sich mit dem Betaehepaar unterhielten. Lifa, Mads Tante, und ihrer Frau Sif. Mads Vater kam aus einer Betafamilie, doch er hatte die Gene nicht geerbt. Dafür seine Schwester.

„Warum kämpfen sie?", fragte Mads weiter.

„Um rauszubekommen, wer zu den Hexen muss, wenn die Soldaten kommen."

„Zu den Hexen?" Von Hexen hatte Mads bereits gehört. Sie waren die Spukgestalten aus den Gruselgeschichten seiner Schwester. Böse alte Weiber, die Wölfe zum Frühstück verspeisten. „Warum das?"

„Weil die schwächsten Wölfe dahin müssen. Das hat mir Mama gestern erklärt."

„Und warum mir nicht?"

„Weil du noch zu klein bist! Viel kleiner als ich!"

Mads war tatsächlich sehr klein und schmächtig für sein Alter. „Und die Hexen essen die dann?"

„Nein." Adahlia schüttelte den Kopf. „Niemand isst Wölfe! Sie müssen dann für die Hexen arbeiten."

„Wollen die das?"

„Die Hexen?"

„Nein. Die Wölfe, die da hinmüssen."

Adahlia schnaubte. „Natürlich nicht. Keiner will das. Daher schickt Alphawölfen Alva immer die schwächsten im Rudel. Ihre... Ururur... Ganz viel Ur- Großmutter hat vor langer Zeit diese Vereinbarung mit den Hexen getroffen und wir machen das heute noch."

Inzwischen hatte ein brauner Wolf die Rauferei verloren und trottete mit hängendem Kopf davon.

„Muss der jetzt zu den Hexen?" Mads sah ihm mit gerunzelter Stirn nach.

„Vielleicht." Adahlia zuckte mit den Schultern. „Wenn er immer verliert. Und dumm ist..."

„Dumm?" Mads hatte gerade angefangen das Lesen und Schreiben zu Lernen, doch die Buchstaben liefen ihm immer davon. Auch das Rechnen viel ihm schwer. Er konnte sich die Zahlen einfach nicht vorstellen. War er dumm? Würde er deswegen zu den Hexen müssen?

„Mimmie hat mir erzählt, dass mal ein Wolf zu den Hexen geschickt wurde, weil er nicht nur schwach war, sondern auch dumm!" Mimmie war Adahlias beste Freundin und lebte im Haus nebenan.

„Oh."

„Also lern schnell lesen, bevor Alva dich zu den Hexen schickt! Ich kann nicht geschickt werden! Ich werde mal Beta!" Seine Schwester streckte ihm die Zunge raus und rannte lachend davon. Sie hatte die Betagene von ihrem Vater geerbt, obwohl er selbst kein Beta war. Das kam selten vorm war aber möglich.

Mads sah ihr perplex nach. Eine verirrte Träne kullerte seine Wange herunter. Er? Zu den Hexen? Nein. Ganz sicher nicht. Er würde ein starker Werwolf werden. Der stärkste von allen. Stärker als Einar, dem Sohn von Alva und Jarl. Einar würde einmal Alpha werden und er gab jeden Tag damit an. Er und Mads waren gleichalt, doch Mads mochte ihn nicht. Mads mochte lieber Einars Zwillingsschwester Emmie. Sie war seine beste Freundin. Auch sie hatte die Alphagene geerbt, doch Einar war fest davon überzeugt, dass er der nächste Alpha sein würde. Beide hatten kurzes, blondes Haar und dunkelbraune, fast schwarze Augen. Doch anders als Einar, war Emmie sehr nett.

Gerade kam sie auf ihn zugelaufen. „Weinst du schon wieder? Hat Adahlia dich geärgert?"

Mads schüttelte den Kopf. „Ich doch nicht. Ich weiß nicht, wie man weint!"

„Aber da ist eine Träne." Emmie zeigte auf den verräterischen Tropfen.

„Das ist Oskar. Mein finstrer Untermieter! Er ist immer traurig."

„Womit hat Adahlia dich geärgert?" Seine Freundin verschränkte die Arme. „Hat sie wieder auf einem deiner Bilder gemalt? Oder dir ein Bein gestellt?"

„Sie hat gesagt, ich muss zu den Hexen, wenn ich nicht schnell Lesen lerne."

„Was? Omegas werden zu den Hexen geschickt! Du bist kein Omega!"

„Und wenn ich ein Omega werde?" Mads wischte sich die Träne aus dem Gesicht.

„Nun! Dann wirst du eben kein Omega! Ganz einfach. Wir machen das zu unserer Mission!"

Mads nickte. „Gut! Heute ist Tag eins der Mission ‚Kein Omega werden'", verkündete er mit neu erlangter Entschlossenheit.

Emmie hüpfte vor Aufregung. „Das wird super! Du wirst schon sehen!"

(Ja... So fing alles an. Mission ‚Kein Omega werden'. Emmie und ich hatten alles geplant! Ich würde der Klügste und Stärkste werden und damit nie zu den Hexen müssen. Ein toller Plan. Und vollkommen nutzlos.)


(c: sasi)


WOLF - Die zwei Rudel. (BL)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt