Kapitel 20 - Warten (Rune)

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„Und kommt zu mir zurück." sind die letzten Worte, die er Summer übermittelt, als diese ihn daraufhin innig umarmt und dann mit einem letzten Blick zurück und einem stummen Nicken zu ihm die Treppen hinaufzusteigen beginnt. Er hasst diesen Moment. Den Augenblick, wenn die Auserwählte die Spitze des Turms zu erklimmen beginnt und er nicht weiß, ob er sie je wieder sehen wird und sie wieder hinter der Biegung der Wendeltreppe herabgeschritten kommt.

Mit schwerem Herzen setzt er sich auf die Hinterpfoten, um das große Warten zu beginnen. Die Zeit zwischen Bangen und Hoffen: Hat er sie dieses Mal genug vorbereiten können oder war es nicht ausreichend? Der Zeit zwischen Erleichterung und der endgültigen Verzweiflung: Wird die Auserwählte es zur wahren Winterprinzessin schaffen oder wird sie dort oben scheitern und seine Suche wird von Neuem beginnen? Die Zeit zwischen Entschlossenheit und Zweifeln: Er war sich seiner Sache und der Auserwählten niemals so sicher wie dieses Mal, doch wird es reichen? Oder hat er erneut versagt, sich in seiner Intuition vertan?

Summer muss es schaffen! Sie muss einfach! Er muss sich eingestehen, dass er sie in der kurzen Zeit sehr gern gewonnen hat, mehr als bei den anderen der Fall gewesen ist. Er will sie nicht verlieren, es wird ihm sein eiskaltes Herz brechen. Keine Ahnung, wie der diesen Verlust und die Verzweiflung dieses Mal überwinden soll. Die junge Frau ist zum Zentrum seines Seins geworden und er ist selbst verwundert darüber. Er bindet sich sonst nie so schnell an eine der Auserwählten, doch Summer ist anders.

Unruhig und verwirrt gibt er seine Warteposition auf und beginnt in dem kleinen Flur Kreise zu ziehen, als er Summers Erschöpfung und Schmerzen wie ein dumpfes Reißen in seinem Inneren zu spüren beginnt. Noch ist sie nicht oben angekommen. Er erinnert sich plötzlich an das eine Mal, als er versucht hat, die Wendeltreppe mit ihren weißen abgetretenen Stufen zu erklimmen.

Leise und vorsichtig schleicht er die Stufen hinauf, um der Winterprinzessin den Turm hinauf zu folgen. Sie darf ihn nicht erwischen, denn Fuyu hatte ihn mehr als einmal ermahnt, sich hiervon fernzuhalten. Aber das würde ihn nicht aufhalten zu bekommen, was er will, koste es, was es wolle.

Als sich die Wendeltreppe immer weiter in den Himmel hinaufwindet und er erschöpft an einer Sitzbank vorbeikommt, setzt er sich, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen. Soweit kommt es noch, dass er sich von einer simplen Treppe in die Knie zwingen lässt! Eine kurze Geste und ein kleiner Zauber werden ihm den weiteren Aufstieg erleichtern und ihn die Stufen quasi hinauffliegen lassen.

Oben angekommen kann er es einfach nicht fassen: Außer einer weiteren Sitzgelegenheit mit einer Frischwasserquelle ist hier oben nichts, einfach gar nichts! Sackgasse! Auch wenn er einen weiteren Zauber wirkt, der ihn magische und versteckte Dinge sehen lässt, kann er nichts weiter erkennen. Am liebsten würde er seiner Wut direkt hier freien Lauf lassen und diesen verdammten Turm einstürzen lassen. Diese Geheimnistuerei für nichts! Dieses Miststück hatte ihn doch tatsächlich zum Narren gehalten!

Verwirrt hat Rune innegehalten und muss ein paar Mal blinzeln, um wieder in die Realität zurück zu finden. Was war das denn? Ein Flashback? Aber von wann? Und wer ist diese Fuyu? Irritiert setzt er seine Runden durch den kleinen Verbindungsraum fort. Und wieso verspürt er so einen abgrundtiefen Hass und eine unbändige Wut am Ende dieser Episode? Und noch etwas war seltsam an dieser Erinnerung: Er kann es nicht so wirklich bestimmen, aber irgendetwas an dem ganzen Geschehen hat nicht so richtig gepasst.

Als er wieder einmal am Fuß der Wendeltreppe vorbeikommt, beschließt er ein oder zwei Stufen hinauf zu gehen um seiner Intuition nachzugehen. Was kann schon groß passieren? Er möchte ja nur kurz was testen. Er setzt gerade die erste Pfote auf die unterste Stufe, als plötzlich ein unsäglicher Schmerz einen Blitz gleich in die erhobene Pfote hineinfährt. Er kann nur noch denken, dass es wohl doch nicht so eine gute Idee gewesen ist. Der Schmerz breitet sich seinen Körper entlang weiter aus, bis dieser schließlich in unaussprechlichen Kopfschmerzen explodiert und Rune vor Qualen zuckend bewusstlos wird.

Im ersten Moment kann er gar nichts spüren, es dauert etwas bis ihm bewusst wird, dass er zu Boden gekippt sein muss. Er liegt auf der Seite, sein Kopf auf der ersten Stufe ruhend. Langsam kehrt das Gefühl in seinen Körper und seine Gliedmassen zurück und unsicher erhebt er sich wackelnd auf alle Viere.

Was bei allen Eisheiligen ist das denn gewesen? Er kann sich nicht erinnern, vorher schon mal etwas Ähnliches erlebt zu haben. Diese Schmerzen kann niemand jemals vergessen. Kurz wirft Rune einen Blick über seinen pelzigen Körper, soweit ihm das möglich ist. Scheint zumindest nichts weiter passiert zu sein, keine sichtbare Verletzung und er fühlt sich auch nicht, als wäre etwas nachhaltig lädiert. Verwirrt zieht es seinen Blick wieder zurück zu den hinter der Säule verschwindenden Stufen. Ob etwas mit Summer passiert ist? Hat sie es geschafft und die Schmerzen waren das Echo der ihrer Wandlung?

Mit geschlossenen Augen konzentriert er sich und sucht in seinem Inneren nach der magischen Verbindung zu der jungen Frau und zieht erschrocken die Luft ein, als er das Band stärker als jemals zuvor wahrnimmt. Mit seinem geistigen Auge erblickt er ein strahlend blauweißes Band, das lebendig und strahlend wie nie zuvor in der unendlichen Dunkelheit seines Unterbewusstseins leuchtet und pulsiert.

Als er der wunderschönen Leitlinie zum Bewusstsein von Summer folgen will, stösst er jedoch gegen eine massive Wand aus kristallklarem Eis. Es gibt kein Vorbeikommen und Rune bleibt nichts weiter übrig als die Untersuchung aufzugeben. Eines kann er jedoch jetzt mit Sicherheit sagen: Die junge Frau lebt und Summer muss die Wandlung erfolgreich gemeistert haben.

Mächtig stolz und so erleichtert, als wäre ihm ein ganzer Gletscher von seinem Herzen gerutscht, nimmt er wieder seine Sitzhaltung vom Anfang ein und wartet glücklich und mit strahlenden Augen auf seine Gebieterin.

Winter - Die Saga der Jahreszeiten Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt