Unterwegs

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Den größten Teil der Fahrt gebe ich vor, zu schlafen, während mein leerer Blick über die vorbei ziehende Landschaft streift. Sie berührt mich nicht. Ich könnte nicht einmal sagen, ob wir an Häusern oder Bäumen vorbeifahren, oder was auch immer. Vielleicht habe ich in den vergangenen Wochen einfach zu viel gesehen, um noch irgendetwas anderes aufzunehmen.
Ich spüre Dantes besorgten Blick auf mir, aber jedesmal, wenn ich ihn anschaue, fängt er mit diesem aufgesetzt fröhlichen Geplapper an. Als wäre alles in Ordnung. Dabei kann selbst ein Blinder sehen, wie verkrampft er das Lenkrad umklammert, und selbst Gehörlose könnten hören, wie falsch diese Fröhlichkeit in seiner Stimme ist. Mein Bruder ist ein miserabler Lügner. Ironischerweise ist er beruflich oft in verdeckten Ermittlungen unterwegs. Keine Ahnung wieso, aber irgendwas scheint er zumindest richtig zu machen.
Der Wagen wird langsamer. Durch meine halb geschlossenen Lider kann ich Schilder sehen, wie sie an jeder Autobahnraststätte aufgestellt sind und auf Toiletten, Schnellrestaurants und überteuerte Minimärkte verweisen.
Dante stellt den Motor ab. Dann höre ich ihn tief seufzen.
»Ich weiß, dass du wach bist, Kurzer.« Seit ich denken kann, nennt er mich so. Er sagt nie ›Lawrence‹, wie die anderen Erwachsenen, und auch nicht ›Law‹, wie ... meine ... Freunde ...? ... auch egal. Mein Bruder hat mich immer nur Kurzer oder Kleiner genannt und es ist ihm ziemlich Schnuppe, dass ich mittlerweile fast so groß bin, wie er.
»Hör mal ...« Ich bin froh, dass er nicht wieder diese falsche Heile-Welt-Stimme benutzt.
»Du weißt, dass das immer noch deine Entscheidung ist, ja? Du musst nicht, wenn du nicht willst.« Ich muss mir das Zittern in Dantes Stimme einbilden. Und seine Worte auch. Wahrscheinlich bin ich doch eingeschlafen, ohne es zu bemerken und jetzt bricht das ganze Chaos der letzten Monate auf mich ein.
Ich habe doch gehört, was sie alle gesagt haben. Die Ärzte und meine Lehrer und meine Eltern, die schamlos in meiner Anwesenheit über mich geredet haben, weil sie dachten, ich würde es nicht bemerken. Meine Apathie hat mich weder taub noch blind noch dumm gemacht. Ich weiß, was sie denken. Ich sei emotional gebrochen. Eine Gefahr für mich selbst. Ein Gefangener meines Traumas. Und jeder weiß am Besten, was ich jetzt brauche. Zeit und Abstand und ›professionelle Unterstützung‹.
Und letztlich ist genau das der Grund, warum sich mein erfolgreicher und vielbeschäftigter Bruder frei genommen hat, um mich einmal quer durch Deutschland zu fahren, zu einer kleinen Einrichtung irgendwo an der Ostsee. Damit sich die Tore von Sandywoods Manor hinter mir schließen können und niemand mehr den emotional gebrochenen Jungen sehen muss, der sowieso derart teilnahmslos geworden ist, dass mein Fehlen niemand bemerken wird.
»Kurzer, sieh mich bitte an.«, sagt Dante leise mit seinem Polizistentonfall und aus unerfindlichen Gründen regt sich in mir der Impuls, ihm zu gehorchen. Trotzdem drehe ich nur leicht den Kopf, dass ich ihn gerade so aus dem Augenwinkel ansehe. Sollte ja wohl reichen.
Ich bin nicht auf Dantes Anblick vorbereitet. Sorge, Verzweiflung und Wut kämpfen in seinem Gsicht um die Vorherrschaft, zwischen seinen Lippen steckt eine unangezündete aber seltsamerweise völlig zerkaute Zigarette und die Hände umklammern noch immer das Lenkrad - so fest, dass die Haut jeden Moment aufreißen und die Knochen darunter herausspringen müssen.
Der Schock verleiht mir für einen winzigen Sekundenbruchteil die Kraft, mich richtig zu Dante umzudrehen. Ich registriere nur vage den Autogurt, dem diese ruckartige Bewegung überhaupt nicht passt und der mir schmerzhaft in die Schulter schneidet.
Meine plötzliche Reaktion scheint wiederum Dante zu überraschen. Ich merke es an den hektischen Flecken, die seinen Nacken hochkriechen, und an der zerkauten Zigarette, die ihm aus dem Mundwinkel rutscht und herunter fällt. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, als er versucht, die fröhliche Maske darauf zu zaubern und versagt.
Nach ein paar Sekunden - Minuten? Oder Stunden? - gibt er schließlich auf. Jetzt sieht er einfach nur traurig aus. Der Schmerz eines Mannes, der seine ganze Welt in Flammen stehen sieht.
»Ich meine nur...«, fängt er an und verharrt dann, mitten im Satz, mit offenem Mund. »Es sollte deine Entscheidung sein. Ich wünschte, du würdest irgendwas dazu sagen. Irgendwas!«
Dantes Stimme bricht beim letzten Wort. Mit einem Mal wirkt er verloren und verletzlich, und irgendwie macht mich das wütend.
Er hat kein Recht dazu. Er hat kein Recht auf meinen Schmerz und vor allem hat er kein Recht daran zu brechen. Er sollte da sein, für mich. Da sein, und sich nicht selber verlieren! Er hätte von Anfang an da sein sollen, statt stundenweit weg die Probleme anderer Leute zu lösen! Er hätte ... aber meine Wut verraucht so schnell, wie sie gekommen ist.
Ich habe keine Kraft, ihr Feuer zu erhalten, und vor allem habe ich keine Kraft, meine Wut herauszulassen.
Seine nächsten Worte will ich nicht hören. Sie sind hässliche Skalpelle, die meinen schützenden Kokon der gefühlstauben Teilnahmslosigkeit mit chirurgischer Präzision zerschneiden.
»Du bist nicht der einzige, der eine Schwester verloren hat.«
Tosende Flutwellen aus Schmerz und Angst und lodernder Wut stürzen auf mich ein.
»Ich habe das Gefühl, dass du mit ihr gestorben bist.«
Die Scherben meines Kokons bohren sich in meine Haut, während mich die Flut umherschleudert bis ich völlig orientierungslos bin.
»Bitte, Kleiner. Ich liebe dich. Bitte komm zurück.«
...!

KollateralschadenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt