Ich höre die hochgezogenen Augenbrauen an dem überraschten »hm«, als Dr. Phyo meinen nackten Rücken sieht. Oder viel mehr, das unfertige Tattoo sieht, das sich über meine Schulterblätter ausbreitet.
»Darf ich fragen, was das darstellt?« Der Doc hat eine tiefe, melodische Stimme. Sie hat etwas Vertrautes und Beruhigendes an sich. Mir kommt der Gedanke, dass es wahrscheinlich für seinen Beruf als Arzt in einer Irrenanstalt von Vorteil ist, so eine milde, vertrauenerweckende Ausstrahlung zu haben. Auch wenn er mich, ehrlich gesagt, an eine Ananas erinnert. Seine Haare haben die gleiche Farbe, wie das Fruchtfleisch einer perfekt gereiften Ananas. Sie stehen ihm auch genau wie Ananasblätter vom Kopf ab.
Ich zucke mit den Schultern.
»Weiß auch nicht.« Die Worte rollen nur widerwillig über meine Zunge und purzeln monoton und verschwommen heraus.
Doc Phyo macht wieder »hm«, nur klingt jetzt wie ein Fragezeichen.
»Ist noch nicht fertig.«, sage ich zur vagen Erklärung.
»Und du weißt nicht, was es mal wird?«, hakt der Doc nach. Da ist der Anflug von Etwas in seinem Ton, das ich nicht recht deuten kann. Es ist fast so was wie ... Respekt?
»Da hast du aber ziemliches Vertrauen in jemanden.« Es ist eine Feststellung, keine Frage, obwohl ich immer noch die hochgezogenen Brauen heraushöre.
Ich zucke wieder mit den Schultern. »Ein Freund.«
»Ah.«
Mir gefällt, dass er nicht weiter nachbohrt. Vorerst zumindest. Er ist ganz anders, als die Ärzte, denen ich in den letzten Wochen zuhauf begegnet bin. Wie Vin wirkt er, als wäre vollends mit sich, seinem Job und überhaupt mit der ganz Welt im Einklang.
Ich bin mir nicht sich, was das für mich bedeutet. Soll ich mich glücklich schätzen? Dankbar sein? Immerhin weiß ich aus Blogs und von diversen Social Media Seiten von den schrecklichsten Horrorszenarien aus Anstalten wie Sandywoods Manor. Geschichten von kinderhassenden Pflegern und sadistischen Ärzten, von komplexgeplagten Therapeuten und von Behandlungen, die eigentlich nur Ausreden zur Verschreibung möglichst vieler und möglichst teurer Medikament sind.
Ich sollte wohl wirklich dankbar sein. Vorerst.
Während ich meinen Gedanken nachhänge, macht Dr. Phyo mit der Untersuchung weiter. Anschließend darf ich - endlich - wieder mein Sweatshirt anziehen, das technisch gesehen gar nicht meines ist. Ich habs mir, sagen wir, geliehen. Und möglicherweise rein zufällig vergessen, es zurück zu geben.
Der Doc schlägt einen Hefter auf und blättert ein bisschen darin herum. Zweifellos meine Akte. Ich nehme an, jetzt sollte meine Aufmerksamkeit wieder im Hier und Jetzt landen und sich fürs Boarding bereit machen.
Phyo geht den Fragebogen durch, den ich vor ein paar Tagen Zuhause ausfüllen musste. Medizinisch relevante Sachen wie chronische Leiden, Allergien und so was. Er kann sein Schmunzeln nicht ganz verbergen, als er zu dem Punkt 'Sonstiges' kommt.
»Die meisten benutzen dieses Feld, um ihren Frust herauszulassen.«, merkt er an, bemüht, nicht zu amüsiert zu klingen. »Vorlieben und Abneigungen beim Essen erfahren wir normalerweise erst im Ernstfall.«
Ich beiße mir auf die Lippe, weil ich mir zu 70% sicher bin, dass ein schnippischer Kommentar nur darauf wartet, aus meinem Mund zu springen.
»Das ist eine beeindruckende Liste an Brotsorten, die du auflistest.« Er hebt den Blick von mein Fragebogen und lächelt mich freundlich an. Er zieht eine Brille mit randlosen, rechteckigen Gläsern aus seiner Brusttasche. Mit der Brille auf der Nase studiert er noch einmal meine Antwort auf 'Sonstiges'.
»Sind dir zuerst die Brotsorten oder der Platz sie aufzuschreiben ausgegangen?« In der Stimme des Docs schwingt echte Neugierde mit.
Ich ziehe die flaschengrünen Ärmel des Sweatshirts über meine Hände.
»Ich hab gegooglet. Ich esse eben kein Brot.« Ich kann selber hören wie defensive ich klinge. Trotzdem lächelt Dr. Phyo mich erneut an.
»Das«, sagt er überraschend ernst, »habe ich, denke ich, verstanden.«
Er macht weiter mit den Fragen zu meinem Seelenzustand. Habe ich Suizidgedanken? Nicht das ich wüsste. Drang zu oder aktive Durchführung von Selbstverletzung? Klares Nein. Ein- oder Durchschlafprobleme? Ähm ... vielleicht?
Das geht eine ganze Weile so weiter und mit jeder Frage und jeder mechanischen Antwort wird mein Kopf schwerer. Ich bin so müde, auf eine Arz, die Schlaf nicht heilen kann.
Irgendwann gehen die Frage in eine grobe Erklärung zu Sandywoods Manor über, aber da hab ich längst wieder abgeschaltet.
Ich möchte schlafen, einen tiefen traumlosen Schlaf. Ich bin so müde von allem. Ich habe es so satt, zu fühlen und zu funktionieren und so zu tun, als wäre meine Schwester am Krebs gestorben.
»Gut.« Doc Phyo klatscht einmal in die Hände und erhebt sich aus seinem Stuhl. »Ich denke, es ist Zeit, dich von deinem Bruder zu verabschieden und dein Zimmer hier zu beziehen.«

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Kollateralschaden
Fiksi Remaja「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...