Sandywoods Manor

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Natürlich ist es eine Villa. Eine gottverdammte Villa mit einer Einfahrt aus mosaikhaft eingelassenen Muscheln und Kieseln und Meerglas. Durch die hüfthohen Eisenlaternen kann ich das trotz der Dunkelheit gut erkennen. Die Villa selbst ist dagegen ein schwarzer Fleck vor der dunklen Nacht. Korrigiere, Abend. Es ist gerade einmal kurz vor 7.
Lediglich die beleuchtete Eingangstür kann ich sehen, wenn auch nur verschwommen. Ich trag meine Brille nicht oft, weil ich dann aussehe, wie ein totaler Streber, und mit Kontaktlinsen komme ich nicht zurecht. Ich weiß nicht, ob mir das aktuell tatsächlich was ausmacht, oder ob ich meine Brille nur gewohnheitsmäßig nicht aufsätze. Vielleicht, denke ich, ist es ja auch besser, wenn ich diese ganze Scheißwelt nicht richtig klar sehe.
Dante lässt den Wagen ausrollen. Auf Fahrerseite vor dem geschlossenen Tor - ein schnörkeliges, absurd hohes Metallgebilde, dass von ebenso hohem Maschendraht umrahmt wird, der vermutlich das ganze Gelände einschließt - steht ein Kasten mit verschiedenen Knöpfen und einem Lautsprecher.
Dante lässt die Scheibe runter und lehnt sich nach draußen. Er drückt auf einen der Knöpfe, wechselt dann ein paar Worte mit dem Kasten und schließlich öffnet sich das Tor vor uns wie von Zauberhand.
Es ist schon längst wieder hinter uns verschlossen, die Elektrik im Wagen längst abgeschaltet, als Dante das offensichtlich sagt.
»Wir sind da, Kurzer.«
Ich schiele aus dem Augenwinkel zu ihm. Er schaut auf zur Villa hinüber, bemüht um ein zuversichtliches Lächeln. Es ähnelt mehr einer verzerrten Halloween-Fratze.
»Zeit auszusteigen.«, sagt er ein paar Takte zu hoch und zu zittrig, als dass sein fröhlicher Tonfall mich auch nur ansatzweise hätte überzeugen können.
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Die diensthabende Pflegerin ist am Standard zeitaktueller Magazine und Instagram-Trends hübsch, mit weizenblonden Lockenstab Locken, vollen Lippen und rosiger, makelloser Haut. Sie trägt hellblaue Leinenhosen mit dem dazu passendem Hemd unter einer Strickjacke, die alt genug ist, um jetzt wohl als vintage oder retro durchzugehen. Eben die Art von alt, die gerade wieder total Trend und cool ist. An ihrem Nacken blitzt der Ansatz eines Tattoos aus dem Kragen hervor, was sie mir irgendwie sympathischer macht, als ihr freundliches Lächeln und ihre führsirgliche Ausstrahlung. Ich habe schon wieder vergessen, wie sie heißt. Irgendwie hat mich die Jacke abgelenkt und in einer Ecke meines Gehirns habe ich sie jetzt als Vin wie Vintage abgespeichert. Nachdem ich jetzt sowieso als verrückt abgestempelt bin, ist das wahrscheinlich auch egal. Verrückteachen komische Dinge und denken komische Dinge. So einfach ist das.
Vin sieht mich erwartungsvoll an, was mich ahnen lässt, dass sie mir eine Frage gestellt hat, die nicht durch den dichten Nebel in meinem Kopf gedrungen ist.
»Äh, was?«, würge ich deshalb hervor.
»Ich habe gefragt«, wiederholt sie freundlich, »ob es dir etwas ausmacht dein Shirt auszuziehen für die Untersuchung. Dr. Phyo ist gleich da.«
Einen Moment bin ich versucht, einen bissigen Kommentar zu geben - letztlich spielt es ja doch keine Rolle, ob es mir was ausmacht oder nicht - lasse es dann aber bleiben. Vin hat keine Schuld daran, dass ich hier bin oder dass mein Leben verkorkst ist. Und ich glaube, tief in mir, irgendwo unter dieser dicken Eisschicht, die sich um mein Herz gebildet hat, finde ich so tatsächlich nett. Sie macht den Eindruck, als arbeite sie hier, weil sie diesen verrückten Kids, Kids wie mir, helfen will. Bei manchen Menschen weiß man so was einfach, ohne sie groß zu kennen.
Sie sagt noch etwas, dass ich nicht höre, weil meine eigenen Gedanken so erdrückend laut sind, und dann nimmt sie die Plastikbox mit, in der all die Dinge liegen, die ich hier anscheinend nicht haben darf. Mein Handy und Portemonnaie, Pips Feuerzeug (ich wusste nicht mal, dass das noch in meiner Tasche war), mein Taschenmesser mit dem Olivenholzgriff und die Kette. Die feingliedrige Kette mit der kleinen Silbernachbildung eines anatomisch korrekten Herzens. Die Kette, die ich Laney geschenkt hatte, an dem ersten Weihnachten, nach der Diagnose, und die sie dann an jedem einzelnen Tag getragen hat. An jedem, inklusive dem Letzten.
Bei der Taschenkontrolle hat Vin mir diesen mitleidigen Blick gegeben. Verletzungsrisiko, blah blah. Ich versteh das ja, zumindest beim Feuerzeug und dem Messer, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht mal daran denken kann mich auch nur mit einem der Beiden zu verletzen. Das Feuerzeug gehört ja nicht einmal mir, also wäre das völlig respektlos Pip gegenüber, und das Messer ... war ein Geschenk. Von jemandem, der mir fast so wichtig ist, wie meine Schwester. Ich könnte es im Leben nicht auf eine solche Art entehren. Nur, dass sie mir Laneys Kette wegnehmen, das kann ich einfach nicht verstehen. Oder besser gesagt, das will ich nicht verstehen. Und schon gar nicht akzeptieren!
... ich bin zu müde, um zu diskutieren. Trotzdem tut es fast körperlich weh, als Vin mit der Box zur Tür geht und mich im kleinen weißen Untersuchungsraum alleine lässt. Mit ihr verschwindet Laneys Kette. Es ist fast, als würde mir meine Schwester noch einmal entgleiten, und wieder bin ich völlig machtlos dagegen.

KollateralschadenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt