Obwohl die Zimmertüren geschlossen und die Lichter bis auf die Notbeleuchtung im Flur gelöscht sind, dauert es eine ganze Weile, bis Sandywoods Manor zur Ruhe kommt. Zum Teil liegt das an den hellhörigen Wänden. Aus einem der Doppelzimmer ist lautes Gekicher zu hören und Raffaell singt unbesonnen irgendwelches unsinniges Zeug in schiefen Tonlagen, bis Enny eingreift und ihm durch die Wand zuruft, er solle verdammt noch mal endlich die Klappe halten. Mit der Lautstärker könnte sie Tote aufwecken. Seltsamerweise ist das einzige Zimmer, aus dem absolut kein Geräusch kommt, Kuris Zimmer direkt neban meinem. Es ist beinahe unheimlich, wie lautlos es bei ihm ist.
Ich liege zusammengerollt auf der Seite, die Augen weit offen. Obwohl ich unendlich erschöpft bin, kann ich einfach nicht abschalten. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken und Erinnerungen in einem wilden Sturm umeinander, zu schnell und zu wirr um ihnen folgen zu können. Außerdem ist mir eiskalt. Die Art kalt, die nichts mit der Außentemeperatur zu tun hat, weil sie von Innen kommt und dich von Innen nach Außen erfrieren lässt.
Die Bettwäsche hier ist aus einem glatten, steifen Stoff und taugt nicht zum Einkuscheln. Wenn ich die Kraft dazu hätte, würde ich in meinem Koffer nach meinem alten Plüsch-Pikachu suchen - das einzige, das ich nicht wahllos sonder sehr bewusst eingepackt habe. Seit ich mich erinnern kann, ist es immer dabei, wenn ich länger irgendwohin fahre. Ehrlich gesagt ist es auch immer dabei, wenn ich bei meinen Freunden übernachte. Und ich weiß, dass das kindisch klingt, okay? Aber es hat etwas Vertrautes und Tröstliches. Vielleicht würde es wirklich helfen, mein Pika auszupacken.
Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, irgendetwas auszupacken. Oder auch nur meinen Koffer und den Rucksack von dem Fleck, an dem sie abgestellt wurden, wegzubewegen.
Ich habe vorhin lediglich Zahnbürste und Zahnpasta herausgefischt, aber am Schlafanzug bin ich schon gescheitert. Stattdessen bin ich einfach in meinen Boxershorts und dem übergroßen, flaschengrünen Sweatshirt ins Bett gekrochen, und jetzt liege ich hier, zu wach und zu müde zugleich, frierend und unglaublich verloren.
Ich vermisse die Geborgenheit eines echten Zuhauses.
Ich vermisse die Sicherheit und Wärme meiner Familie.
Ich vermisse die überdrehte Naturgewalt, die meine beste Freundin Pip ist, und das kreative Chaos, das mein bester Freund Shandro innerhalb von Sekunden anrichtet. Ich vermisse meine Schwester, die immer mein sicherster Hafen war.
Laney wird mir nie wieder Halt geben können. Sie wurde von zu vielen Menschen im Stich gelassen, um weiterzumachen. Ich wurde von zu vielen Menschen im Stich gelassen, um weiterzumachen. Vielleicht ist es auch einfach die Welt, die von zu vielen Menschen im Stich gelassen wurde, um noch Halt geben zu können, eine Zukunft für all die verlorenen Seelen in ihr.
Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug.
Sie könnte noch leben, aber nach allem, was passiert ist, hat sie aufgegeben. Sie hat sich ihren Tag zum Sterben ausgesucht, und ihre Krankheit, der Krebs, war einfach nur ein Mittel zum Zweck. Sie hat ihn regelrecht dankbar angenommen. Es war ein einfacher Ausweg, weil es niemand hinterfragt. Viele Menschen sterben an Krebs. Meine Schwester hat sich einfach nur bereitwillig verzehren lassen.
Fuck.
Es tut so verdammt weh, daran zu denken. Ich irre durch das Chaos aus Erinnerungen und suche nach etwas, das stark genug ist, um mich vom Anblick meiner sterbenden Schwester zu lösen. Ich greife nach einem kleinen Funken, der an mir vorbeischwebt. Ein winziges Leuchten inmitten dieser kalten, scharfkantigen Finsternis, die mich umgibt.
Und dann schiebt sich das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, über die Erinnerung an meine Schwester.
Zum ersten mal seit Monaten regt sich in mir ein Funke von Wärme. Ein winziger Flügelschlag, der todesmutig versucht mein erstarrtes Frostherz aufzutauen. Zum Schlagen bringen. Zum Fühlen.
Es raubt mir den Atem. Meine weit geöffneten Augen sehen nicht mehr die dunklen Umrisse meines aktuellen Zuhauses. Ich bin erfüllt von diesen unglaublich intensiven Saphiraugen und lasse mich in die fantastische Welt hinter den Stahlwällen fallen.
Mein Herz beginnt zu schlagen.
Zaghaft, stolpernd, lebendig.
Ich bin lebendig.
Ich bin immer noch hier.
Ich kann leben.
Ich werde leben. Wenn ich es will.
Doch dann erinnere ich mich, wie schnell ich aus Kuris Welt ausgeschlossen wurde. Wie abweisend sein Blick plötzlich wurde.
Mein Herz stolpert über seine eigenen Schläg und stürzt in den Abgrund. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. All die Leere in mir wird herausgepresst, bis ich zu einem trostlosen, hässlichen Klumpen aus Einsamkeit und Hass komprimiert bin.
Scheiße.
Ich wünschte Benno wäre jetzt bei mir.
Ich wünschte, mein allerbester Freund wäre immer noch mein allerbester Freund.
In meinen viel zu wachen Augen sammelt sich all der Schmerz, den ich über Wochen kaum wahrgenommen habe.
Und dann kann ich es nicht mehr bremsen.
Stumm und regungslos liege ich in den steifen Laken während die Erschöpfung, der Schmerz, der Hass und der Selbsthass und all die ganze beschissene Sehnsucht in der Gestalt salziger Tränen seine Weg aus mir heraus bahnt. Sie sammeln sich auf dem glatten Stoff des Kissenbezugs, perlen daran ab und sickern schließlich in den Kragen meines Sweatshirts.
Das flaschengrüne Sweatshirt, das mir viel zu groß ist, weil es Benno gehört. Ich hätte es zurückgeben sollen. Es ist das näheste an einer Umarmung, dass ich hier habe. Fuck, fuck, fuck. Er fehlt mir wirklich.
Ich bin gerade so verloren und verwirrt und erdrückt von ... einfach allem. Ich weiß noch nicht mal mehr, warum ich sauer auf ihn bin - war?
Und dann entfährt es mir doch. Ein Schluchzen, in dem so viel Schmerz mitschwingt, dass es mich selber überrascht.
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Kollateralschaden
Teen Fiction「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...